Hier einige Anmerkungen aus systematischer Sicht, inwieweit die Privatgeschichte als Konzept und mit Abgrenzung zur Historiographie in der antiken Poetik durchdacht und ausgehandelt wird - davon weiß ich zuwenig.
Immerhin ein paar Festmarken also aus synchroner Perspektive:
1. Die Aristoteles-Unterscheidung "was geschehen ist" - "was geschehen könnte nach Angemessenheit und Notwendigkeit" separiert fiktionales von faktualem Erzählen.
2. Faktuales Erzählen setzt voraus, dass es sich auf "Protokollsätze" (Carnap) sinnvoll zurückführen lässt. Also auf dokumentierte oder prinzipiell dokumentierbare, besser überprüfbare Behauptungen von Sachverhalten. Also Kategorien, die man etwa in der Blechtrommel nicht ansetzt.
3. Fiktionales Erzählen kann auf einen allwissenden Erzähler zurückgreifen, der insbesondere ohne weitere Umstände Fremdpsychisches ausleuchtet. Andererseits lassen sich durchaus fiktionale Erzählungen finden, die nicht Allwissenheit voraussetzten. Und andererseits greifen auch faktuale Texte gerne auf Gedanken und Gefühle historischer Personen zu, ohne diese über Tagebucheinträge oder ähnliches legitimieren zu können.
4. Noch einmal anderseits kann Grass in seinem fiktionalen Text historisch fixierbare ereignisse (Sturm auf die Post) einfügen.
5. Man sieht: Die Dichotomie faktual-fiktional ist durchaus nützlich, hat aber keine strikte Trennschärfe. Die Begriffe sind protosemantisch oder nach der Kategorie "best exemplar" konstruierbar.
6. Ähnliches Limesfiguren gibt es dann wohl auch in der Sparte "faktuales" Erzählen:
7. Historiographie konzentriert sich zweifellos auf Taten und Ereignisse der großen Geschichte, also auf die Männer oder Frauen, die "Geschichte machen" (Treitschke). Andererseits öffnet sie sich zunehmend auch dem "kleinen Mann" und der "Geschichtsschreibung von unten". Damit fließen Privatzeugnisse in die Historiographie mit ein.
8. Ein schönes Beispiel für die fließenden Übergänge und Berührungen "großer" und "kleiner" Geschichte sei hier angeführt:
In Wahrheit? Große Allgemeingeschichte – Kleine Privatgeschichte(n)
http://www.wien.spoe.at/bilder/d32/TF_R ... _Rapid.jpgAm Morgen des 22. Juni 1941 eilte ein vierzehnjähriger Junge durch die Straßen seiner deutschen Stadt. Es war Sonntag, aber Erfurt schlief nicht mehr. Eine Unruhe hatte sich der Stadt bemächtigt. Am Bahnhof fand der Junge sich bereits erwartet von etlichen Kameraden, die die Nachricht schon kannten. Sie fuhren trotzdem nach Berlin, wo heute nachmittag das Endspiel um die großdeutsche Fußballmeisterschaft steigen würde: Rapid Wien gegen Schalke 04.
Daß im Morgengrauen dieses Tages Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfallen hatte, ging an dem Jungen völlig vorbei. Aber Schalke hatte die Meisterschaft verspielt, Rapid Wien hatte gewonnen, deshalb befestigte sich der 22. Juni 1941 im Herzen des Kindes doch noch als der fürchterliche Tag, der er in Wahrheit war.
In Wahrheit? So wäre, was die Wiener jubeln ließ, falsch gewe-
sen ? - Das hängt davon ab, wonach wir fragen - nach der großen
Allgemeingeschichte oder nach der kleinen, die dem einzelnen
widerfährt. Beide stimmen ziemlich selten überein. Deshalb tut
die kleine Geschichte die große gern als Propaganda ab und die
große die kleine als persönlichen Kram. Und wäre doch froh,
wenn sie dem Menschen so nahe käme.
Christoph Dieckmann (2000):
Hinter den sieben Bergen. Geschichten aus der deutschen Murkelei.
München: dtv; S. 170f.
9. Vielleicht interessant:
Christian Klein, Matias Martinez (Hrsag): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarisdchen Erzählens. Stuttgart Metzler 2009