descensus Averno

Für alle Fragen rund um Latein in der Schule und im Alltag

Moderatoren: Zythophilus, marcus03, Tiberis, ille ego qui, consus, e-latein: Team

descensus Averno

Beitragvon medicus » So 4. Sep 2022, 18:47

poet. m. Dat. (in), facilis desc. Averno, Verg. Aen. 6, 126.

Wie erklärt sich hier der Casus Averno?
medicus
Augustus
 
Beiträge: 6623
Registriert: Do 9. Dez 2010, 11:39

Re: descensus Averno

Beitragvon ClaudiaK » So 4. Sep 2022, 19:07

Der Dativ kann in der Dichtung die Funktion der Zielangabe haben, ein Dativ des Ziels, der auf die Frage wohin? antwortet. Verblüfft? Ich war es jedenfalls, als ich von ihm das erste Mal hörte. :)
Benutzeravatar
ClaudiaK
Proconsul
 
Beiträge: 439
Registriert: Di 1. Dez 2020, 08:07
Wohnort: Saxonia et Anhaltium

Re: descensus Averno

Beitragvon medicus » So 4. Sep 2022, 19:16

Salve ClaudiaK, obstipesco quidem et gratias ago.
medicus
Augustus
 
Beiträge: 6623
Registriert: Do 9. Dez 2010, 11:39

Re: descensus Averno

Beitragvon marcus03 » Mo 5. Sep 2022, 07:30

marcus03
Pater patriae
 
Beiträge: 11398
Registriert: Mi 30. Mai 2012, 06:57

Re: descensus Averno

Beitragvon Sapientius » Mo 5. Sep 2022, 08:28

"Cui bono?" fragt man bei der Rechtsfindung: Wem kam die Sache zugute? Der Dativ bezeichnet doch immer eine Art Ziel, finis.

Marce, die Grammatik bietet eine Auflistung der Schubfächer, die es gibt; aber uns interessieren eigentlich nicht die Schubfächer, sondern das, was mit deren Inhalt gamacht wird; anders gesagt: uns interessiert, als was der Dativ im Text ankommt, nicht, aus welchem Schubfach er kommt; hier an der Stelle: "descensus" erfordert eine Zielangabe, und Averno bietet diese.
Sapientius
Censor
 
Beiträge: 910
Registriert: Mi 8. Jan 2020, 09:00

Re: descensus Averno

Beitragvon Sapientius » Di 6. Sep 2022, 16:58

Wie erklärt sich hier der Casus Averno?


Ich überlege, ob man nicht anders fragen sollte; denn so bekommen wir die Liste vorgesetzt und können die Frage abhaken. Aber haben wir etwas gewonnen?
Die Frage ist zu punktuell, aber nichts steht für sich allein. Die Frage sollte lieber lauten: wie ist der Casus in Beziehungen eingebunden? Wozu fungiert er? Was leistet er?

In unserer Zunft sind wir gewohnt, so zu fragen: was "ist" das? Und damit geben wir uns als Altplatoniker zu erkennen, wir suchen nach der ewigen Idee; "Substanzdenken" sagt man; aber dieses wurde abgelöst durch das "Prozessdenken", es gab einen Paradigmenwechsel. Früher sah man den Satz als "S, P, O", eine Ansammlung der drei hauptsächlichen Satzteile; heute sieht man ihn als "S => P, P => S, und P => O", der Satz besteht also aus Beziehungen. Es kommt darauf an, bei welcher Sichtweise mehr herauskommt; Prinzipienreiterei hilft niht weiter.
Sapientius
Censor
 
Beiträge: 910
Registriert: Mi 8. Jan 2020, 09:00

Re: descensus Averno

Beitragvon iurisconsultus » Di 6. Sep 2022, 17:38

Zwar ist Lesart von Averno als Dativ des Ziels, soweit ich sehe, vorherrschend, da aber Avernus eigentlich Avernersee heißt und nur qua Metonymie auch die Unterwelt bezeichnet (der Avernersee als Eingang in die Unterwelt), könnte man Averno auch als Ablativ lesen: Der Abstieg vom Avernersee ist einfach.
Qui statuit aliquid parte inaudita altera,
aequum licet statuerit, haud aequus fuit.
(Sen. Med. 199-200)
Benutzeravatar
iurisconsultus
Dictator
 
Beiträge: 1238
Registriert: Di 31. Dez 2013, 15:37
Wohnort: Lentiae, in capite provinciae Austriae Superioris

Re: descensus Averno

Beitragvon marcus03 » Di 6. Sep 2022, 17:48

iurisconsultus hat geschrieben: könnte man Averno auch als Ablativ lesen: Der Abstieg vom Avernersee ist einfach.

Abl. separativus nach Nomen?? Das halte ich für unwahrscheinlich, falls überhaupt möglich.
Das Dativattribut ist mMn schon ungewöhnlich.
marcus03
Pater patriae
 
Beiträge: 11398
Registriert: Mi 30. Mai 2012, 06:57

Re: descensus Averno

Beitragvon ille ego qui » Di 6. Sep 2022, 18:21

Sowas kommt durchaus, wenn auch selten, vor.
Man kennt ja die Regel, dass normalerweise kein Präpositionalausdruck von einem Substantiv abhängt. Dabei werden für gewöhnlich mehrere Ausnahmen aufgezählt werden, unter anderem der Fall, dass das Substantiv ein Verbalsubstantiv ist, z.B. excursio (von excurrere) oder eben iter (von ire). So hängt dann der Präpositionalausdruck eher „am Verb im Substantiv“.
Es zeigt sich nun bei ausgedehnter Lektüre, dass mitunter - selten, wie gesagt - von Verbalsubstantiven auch alle möglichen anderen Ergänzungen und Angaben abhängen können, die vom Basisverb eben auch abhängen können.
Ille ego, qui quondam gracili modulatus avena
carmen et egressus silvis vicina coegi,
ut quamvis avido parerent arva colono,
gratum opus agricolis, at nunc horrentia Martis
arma virumque cano ...
ille ego qui
Augustus
 
Beiträge: 6888
Registriert: Sa 3. Jan 2009, 23:01

Re: descensus Averno

Beitragvon ille ego qui » Di 6. Sep 2022, 18:43

Einige Beispiele aus dem neuen Menge:

270.3a

- Alexandriā discessus
- Narbone reditus
- mansio Formiis
- nocturnus introitus Smyrnam
- iter Alexandriam = iter Alexandrinum
- reditus Romam
- eodem flumine invectio

323:
- sibi ipsi responsio
- traditio alteri
- obtemperatio scriptis legibus
- plausus tribunis
- dignitati fautor

361.2:
- domum itio
- domum concursus

(vgl. 364.6)
Ille ego, qui quondam gracili modulatus avena
carmen et egressus silvis vicina coegi,
ut quamvis avido parerent arva colono,
gratum opus agricolis, at nunc horrentia Martis
arma virumque cano ...
ille ego qui
Augustus
 
Beiträge: 6888
Registriert: Sa 3. Jan 2009, 23:01

Re: descensus Averno

Beitragvon iurisconsultus » Di 6. Sep 2022, 19:48

Danke ille. Ich verstehe dich so, dass meine Überlegung Averno könne auch ein Abl. sep. sein, aus philologischer Sicht unangreifbar ist. Es gibt obendrein ein intrasystematisches Argument: Vergil verwendet im 6. Buch Avernus (sonst) nirgends metonymisch. :D
Qui statuit aliquid parte inaudita altera,
aequum licet statuerit, haud aequus fuit.
(Sen. Med. 199-200)
Benutzeravatar
iurisconsultus
Dictator
 
Beiträge: 1238
Registriert: Di 31. Dez 2013, 15:37
Wohnort: Lentiae, in capite provinciae Austriae Superioris

Re: descensus Averno

Beitragvon ille ego qui » Di 6. Sep 2022, 19:53

Philologisch wäre das aufgrund der Belege sicher möglich. (Separativ sind ja die ersten beiden Belegstellen.) Was die Vergil-Stelle angeht, entscheidet wohl der Kontext!
Erklär mir das mal mit dem intrasystematischen Argument!
Ille ego, qui quondam gracili modulatus avena
carmen et egressus silvis vicina coegi,
ut quamvis avido parerent arva colono,
gratum opus agricolis, at nunc horrentia Martis
arma virumque cano ...
ille ego qui
Augustus
 
Beiträge: 6888
Registriert: Sa 3. Jan 2009, 23:01

Re: descensus Averno

Beitragvon iurisconsultus » Di 6. Sep 2022, 20:09

Ich meine, dass ich, zumindest bei kursorischer Durchsicht, sonst keine Stelle im 6. Buch gefunden habe, wo Avernus mit hoher Wahrscheinlichkeit (eher) die Unterwelt und nicht den See bezeichnet. Warum sollte das dann solitär an dieser Stelle anders sein? Zumindest für uns Juristen ist das eine gängige Auslegungsmaxime. :-D
Qui statuit aliquid parte inaudita altera,
aequum licet statuerit, haud aequus fuit.
(Sen. Med. 199-200)
Benutzeravatar
iurisconsultus
Dictator
 
Beiträge: 1238
Registriert: Di 31. Dez 2013, 15:37
Wohnort: Lentiae, in capite provinciae Austriae Superioris

Re: descensus Averno

Beitragvon marcus03 » Mi 7. Sep 2022, 07:40

Hier alle Stellen mit descensus:
https://latin.packhum.org/concordance?q=descensu

monte descensus = der Abstieg vom Berg
Würde Cicero das sagen?
Oder war er nur zuwenig oribates? ;-)

iurisconsultus hat geschrieben:Zumindest für uns Juristen ist das eine gängige Auslegungsmaxime

Quod licet iurisconsultis, non licet philologis.
Ein eindeutiger Gegenbeleg und das wars dann. :)
marcus03
Pater patriae
 
Beiträge: 11398
Registriert: Mi 30. Mai 2012, 06:57

Re: descensus Averno

Beitragvon Sapientius » Mi 7. Sep 2022, 08:30

Das habe ich ja von Anfang an sagen wollen: "Averno" für sich allein ist nicht eindeutig finaler Dativ, nicht einmal Dativ; sondern erst mit "descensus" zusammen hat es diese Bedeutung; es kommt also auf die Einbindung, die Relation, die Anwendung, den Prozess an; deshalb habe ich mit dem "Prozessdenken" etwas ausgeholt, es ist aber auch ein interessanter Punkt.
Sapientius
Censor
 
Beiträge: 910
Registriert: Mi 8. Jan 2020, 09:00

Nächste

Zurück zu Lateinforum



Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 22 Gäste