von Pyrrha » Mo 15. Jun 2009, 16:40
Ein Großteil der Manipulationen, die wir täglich zu hören bekommen, beschäftigt sich auf die ein oder andere Weise mit Wissenschaften und fußt auf statistischen Aussagen, die nach Belieben hin und her gewendet, aus dem Zusammenhang gerissen und dem eigenen Ziel untertan gemacht werden. Nicht umsonst heißt es, man solle keiner Statistik trauen, die man nicht selber gefälscht habe. Um ganz konkret mündige Bürger heranzuziehen, würde ich der Statistik mehr Wert beimessen als dem Latein, und einige der kontraintuitiven Beispiele selber nachrechnen lassen.
Mich persönlich hat es sehr beeindruckt, als ich in einer wissenschaftshistorischen Veranstaltung vorgeführt bekam, wie und mit welchen Argumenten die Wissenschaftler in vergangenen Jahrhunderten die Überlegenheit der europäischen Rasse, insbesondere der mitteleuropäischen Spielart, zu beweisen, um damit die Kolonisation zu begründen. Seitdem bin ich sehr empfindlich gegenüber allem, was in der (Pseudo-)Wissenschaft irgend auf Superiorität wessen auch immer hindeutet. Verantworlicher Umgang mit Wissenschaft ist m.E. wesentlich, um kritisch fragen und urteilen zu können. Dazu gehört, dass man anhand eindringlicher Beispiele gezeigt bekommt, dass Wissenschaft manipuliert wurde und wird, und dass man sich klar macht, was Wissenschaft kann und will, z.B. und besonders im Gegensatz zu Religion.
Diese sind wohl die wesentlichsten Punkte, die auf "Mündigkeit" zielen, und sie kommen - zunächst einmal - ohne Latein aus.
Was das Denken betrifft, ich habe Lateinschüler kennen gelernt, die am Ende der Stunde nicht wussten, was inhaltlich in dem Caesartext drinstand, den sie gerade durchgenommen hatten. Im Lateinunterricht verschwimmt oft die Aussage vor der Form und Grammatik. Aber im Große und Ganzen stimme ich Tiberis hier zu. Das Wesentliche, wozu man Latein benötigt, meiner Ansicht nach, ist, um eine Art von kultureller Mündigkeit zu erlangen. Dazu kommt ein vertieftes allgemeines Sprachverständnis. Das ist zusammengenommen schon sehr viel, und ich habe immer Angst davor, wenn Vertreter bedrohter Fächer zu sehr ihre Wichtigkeit betonen wollen und dann zwangläufig anfangen zu übertreiben.
Consus, dein Argument, man solle doch mal "Statements" ins Lateinische übertragen, ist m.E. aus zwei Gründen nicht ganz schlüssig: Zunächst einmal, in welches Latein? Als Altphilologen schweben dir die Blüten lateinischer Wortkunst vor. Die 08/15-Reden und "Statements" werden auch damals anders ausgesehen haben. Das ist also keine 1:1 Korrespondenz. Wieviele wirklich "große" Reden pro Jahr kann es geben? Zweitens: Ich sehe keinen Grund, anzunehmen, dass es die Worthülsen, die es ja nicht nur im Deutschen, sondern in allen modernen Sprachen gibt, nicht auch damals schon gab. Natürlich waren die Themen, über die man sich unterhielt, andere, aber das Bedürfnis, das Volk über die Wahrheit im unklaren zu lassen, ist zeitlos. Und schon damals wurde dagegen gewettert, man denke nur an die berühmte Stelle bei Tacitus', wo er die hochgelobte Pax Romana als Umschreibung für rücksichtslose Unterdrückung entlarvt. Dass uns quantitativ nicht so viele leere Worte überliefert sind, wie wir heute täglich hören, liegt doch wohl zum Einen daran, dass uns nur ein kleiner Teil der Reden überliefert sind, und zwar sicherlich nicht die schlechten und austauschbaren, und zum Anderen kommt es daher, dass wir trotz aller Alten Geschichte und Klassischer Archäologie die Umstände, unter denen diese Reden gehalten wurden, nicht bis ins Einzelne kennen können. Sicherlich würde uns so Einiges in einem anderen Licht erscheinen.
Gruß, Pyrrha.
Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?