Muß Latein nützen?

Für alle Fragen rund um Latein in der Schule und im Alltag

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Re: Muß Latein nützen?

Beitragvon Zythophilus » So 21. Jun 2009, 14:20

SALVETE
Dass der alte Gallier der Urvater aller Dummköpfe sein soll, klingt nicht sehr plausibel, aber immerhin originell. Wenn sich Zahlwörter in verschiedenen indogermanischen Sprachen ähneln, dann sollte man weniger an gegenseitige Beeinflussung als an die gemeinsame Wurzel denken.
Dennoch gefallen mir die vielleicht sehr idealistischen Gedanken von late starter.
Betrachtet man die Nützlichkeit eines Unterrichtsfaches nach seiner konkreten Verwertbarkeit in einem späteren Beruf, dann wird man auch bei den meisten anderen Fächern – gerade Sprachen – zu einem ähnlichen Urteil kommen.
Die meisten Sprachen mit Ausnahme des Englischen sind in der Wirtschaft trotz anderslautenden Beteuerungen ziemlich unerheblich, wenn man nicht vorhat, im betreffenden Land zu arbeiten oder etwas zu verkaufen. Fremdsprachenkenntnis erweitert den Horizont und schafft andere Vorteile, ist aber sonst im Endeffekt nicht so wichtig. Selbst eitle Franzosen, die ihre Sprache gerne überbewerten, lernen Englisch.
Wenn Bildung mehr sein soll als eine möglichst genau auf einen späteren Beruf abzielende Ausbildung, dann hat Latein seinen Stellenwert in Europa.
Dass eine berufliche Ausbildung in vielen Fällen eine Sprache wie Latein nicht direkt braucht, ist schon klar. Auf das Unterrichtsfach „Geschichte“ trifft das genau so zu, denn die Anzahl derer, die die darin erworbenen Kenntnisse direkt in ihrem Beruf anwenden, ist eher gering.
Ob ich Fremdwörter leichter verstehe, wenn ich ihre Ursprungssprache kenne, oder sie extra lerne, ist ebenfalls relativ egal. Ein Mediziner muss vermutlich, auch wenn er in der Schule Latein hatte, die Namen der Knochen und Muskeln auswendig lernen. Dass selbst Historiker ihr Studium praktisch ohne Lateinkenntnisse abschließen können, ist eine traurige Realität, denn es beweist, dass sie offenkundig nie einen Blick in viele originale Quellen gemacht haben.
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Re: Muß Latein nützen?

Beitragvon RM » So 21. Jun 2009, 15:47

Fremdsprachen kann man natürlich erst einsetzen, wenn man sie beherrscht. Sie in dem Moment zu lernen, wenn man sie benötigt, ist sinnlos, da es einfach zu lange dauert. Wichtig ist aber die Diversifizierung. Ein Europäer sollte heutzutage neben Englisch und der einigen Muttersprache wenigstens eine weitere europäische Sprache beherrschen, sonst bekommt er einfach zu wenig mit. Latein ist da in jedem Fall ein gutes Substrat, abgesehen von seiner kulturellen Bedeutung. Wenn wir aber beim Lateinischen berücksichtigen, daß hier ja eine Sprache gelernt wird, muß es auch jenseits der Inhalte, die darüber vermittelt werden, einen Wert haben. Ein Nutzen des Lateins müßte sich also auch über seine Eigenschaften als Sprache definieren lassen.

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Re: Muß Latein nützen?

Beitragvon Brakbekl » So 21. Jun 2009, 23:04

Hallo, ich wollte nur ausführen, daß "Nutzen" noch nie irgendwo inter hominibus ein Argument gewesen ist. Was der Mensch in Otio suo macht - griech: ß-cholä - steht außerhalb von Kosten-Nutzen Kalkulationen. Interessant ist, daß das Wort Sklave leider sehr nahe der Schule steht. Der Beschulte! Wahrscheinlich wird herauskommen, daß Geld ein Argument der Orks ist.

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Re: Muß Latein nützen?

Beitragvon RM » So 21. Jun 2009, 23:34

brakbekl hat geschrieben:Macht was ihr wollt, aber nicht für Geld!

Na, wir sollten in 20 Jahren noch mal miteinander reden ... :wink:

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Re: Muß Latein nützen?

Beitragvon Laptop » Mo 22. Jun 2009, 00:03

Ich denke vieles beruht auf einem sehr engstirnigen Verständnis des Begriffs "Bildung". Was unter Bildung so allgemein verstanden wird, ist wissenschaftliches Wegwerfwissen (d.h. keine "Erkenntnis") was an der Realität vorbeigeht und mit der Bewältigung des Alltags, mit der Lebensführung nicht viel zu tun hat.

Alles wesentliche Wissen wird stillschweigend vorausgesetzt, etwa so: "Du hast das alles zu wissen, aber ich bin nicht dafür zuständig, sieh zu woher du es dir aneignest." :hairy:

Bspw. habe ich nicht gelernt ...
- Bäumen und Pflanzen zu kennen, eine Birke, eine Eiche und eine Amsel kann ich erkennen, aber darüber hinaus? Aber die Meiose habe ich gelernt, und ich weiß nicht wozu?
- wie der Straßenverkehr mit all seinen erweiterten Regeln funktioniert, anscheinend soll man das mit der Muttermilch aufsaugen?
- worauf muß ich steuern zahlen? Das ganze Basiswissen "Steuern" fehlt mir. Aber die doppelte Buchführung habe ich gelernt und weiß nicht wozu?
- wie unsere Rechtsystem funktioniert, vor allem wann darf ich vor Gericht klagen, und wie? Was für Rechte hat ein Käufer mit Warenrückgabe usw.?
- ich weiß sogut wie nichts über die Geschichte meiner Muttersprache, über Mittelhochdeutsch und Althochdeutsch, ist das die Lektüre von Thomas Mann wert?
- was die typischsten Krankheiten sind und wie kann ich sie prophylaktisch vermeiden? Ich glaube in 13 Schuljahren wurde HIV nie erwähnt.

Ich denke diese Auflistung kann man beliebig erweitern. Als ich aus der Schule kam, habe ich mich gefragt, warum man die Kinder mit Wegwerfwissen traktiert (welch schönes Wort!) ich glaubte die Antwort sei zum Zwecke einer Beschäftigungstherapie. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr ganz so sicher.
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Re: Muß Latein nützen?

Beitragvon RM » Mo 22. Jun 2009, 00:34

Laptop hat geschrieben:... wissenschaftliches Wegwerfwissen ...

Aber Lesen und Schreiben, das haben wir doch gelernt - immerhin. Der Rest steht in Büchern und vielleicht im Internet, man muß es nur finden ... :wink:

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Re: Muß Latein nützen?

Beitragvon Laptop » Mo 22. Jun 2009, 03:02

@RM du meinst wohl LIFE = lege istud fututum enchiridion ;-)

Aber haben wir wirklich lesen und schreiben in hohem Maße gelernt? Ich bezweifele das, wenn ich sehe wie oft noch "daß" und "das" verwechselt wird, selbst von sehr klugen Köpfen hier im Forum. Auch das wird stillschweigend vorausgesetzt.
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Re: Muß Latein nützen?

Beitragvon Brakbekl » Mo 22. Jun 2009, 17:24

Die Meinung, wir hätten Lesen und schreiben gelernt, verwechselt etwas. Es gibt ja auch Leute, welche meinen, das Hören beschränke sich auf die Wahrnahme akustischer Frequenzen. Wie war das noch, mit der Warnung vor der Schrift, als sie noch nicht eingeführt worden war?
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Re: Muß Latein nützen?

Beitragvon Tiberis » Mo 22. Jun 2009, 22:35

Laptop hat geschrieben:Ich denke vieles beruht auf einem sehr engstirnigen Verständnis des Begriffs "Bildung".

so ist es. wer unterscheidet denn schon wirklich zwischen bildung und ausbildung, zwischen wissen und bloßer information ? die kenntnis möglichst vieler "fakten" macht noch lange keinen gebildeten menschen. abgesehen davon - , gibt es einen solchen überhaupt? kann der prozeß "bildung" jemals als abgeschlossen, als fertig betrachtet werden, wie es das wort "gebildet" nahelegt? bildung als prozeß des stetigen sich- öffnens neuem gegenüber, der stetigen horizont-erweiterung ist ja wohl etwas anderes als "wissensbesitz", ein verräterischer begriff für einen statischen zustand.
weite des horizontes, freiheit des denkens, öffnung und entfaltung der persönlichkeit - das sind für mich wesentliche merkmale des prozesses "bildung", symbolhaft dargestellt durch den nach allen seiten offenen raum in Raffaels "schule von Athen".
alles , was den menschen in diesem sinne zu bilden, seinen geist und charakter zu formen vermag, ist von der heute üblichen, berufsrelevanten "ausbildung" klar zu unterscheiden, wie ja auch beispielsweise die ausbildner beim heer normalerweise mit bildung nichts zu tun haben :lol: .
und bildung , die nur auf den intellekt abzielt, kann es nicht geben, da sie immer die persönlichkeit als ganzes betrifft. dieser den ganzen menschen umfassende aspekt des begriffes bildung kommt gerade im lateinischen wort "humanitas" schön zur geltung.
zurück zum ausgangspunkt der debatte: "muß latein nützen?" , lautete die einigermaßen alberne frage. wenn wir uns darauf einigen können (wie ich doch hoffe), dass latein ein (wie ich meine, unverzichtbares) bildendes fach ist - selbst wenn wir seinen beitrag zur bildung auf seine zwei "kernkompetenzen" reduzieren: schulung des denkens und des sprachlichen ausdrucks - , dann könnten wir genauso gut bzw. genauso unsinnig fragen: "muß bildung nützen?"
eine wahrlich absurde frage, aber vermutlich dem zeitgeist entsprechend.
kann man sich vorstellen, dass einer der in der "schule von Athen" versammelten philosophen etwas derartiges zur diskussion gestellt hätte? :shock:
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Re: Muß Latein nützen?

Beitragvon RM » Mo 22. Jun 2009, 23:24

Tiberis hat geschrieben:kann man sich vorstellen, dass einer der in der "schule von Athen" versammelten philosophen etwas derartiges zur diskussion gestellt hätte?

Aber ja, natürlich haben sie sich auch mit solchen Fragen beschäftigt. Es war ihnen bewußt, daß sie sich - sozusagen als schrullige Paradiesvögel - öfters nach dem Sinn ihrer Beschäftigung mit der Philosophie fragen lassen mußten. Da gibt es ja diese Anekdote von Aristipp, der, als er gefragt wurde, worin sich ein Gebildeter von einem Ungebildeten unterscheide, antwortete, man solle beide nackt zu fremden Leuten schicken und man werde es erfahren ...
Was jetzt das Latein an sich betrifft, muß ich wohl noch deutlicher werden: Es besteht hier eine Diskrepanz zwischen der lateinischen Sprache und den Inhalten, die über das Lateinische transportiert werden. Man kann sich mit den Inhalten bis zu einem gewissen Grade beschäftigen, ohne die Sprache zu beherrschen. Eine solche Art von Literaturunterricht wird an verschiedenen Universitäten durchaus angeboten. Natürlich kann man sich fragen, ob dies einen Sinn hat, andrerseits hat es Vorteile, wenn man schaut, was ein normaler Schüler im Lateinunterricht von den Inhalten überhaupt mitbekommt.

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Re: Muß Latein nützen?

Beitragvon Medicus domesticus » Mo 22. Jun 2009, 23:30

@RM:
Ich muß sagen, dass man Latein oft erst richtig versteht (nach Gymnasium und evtl. LK Latein) , wenn man einen gewissen Abstand von der Schule hat....dann kann man sich oft freier mit Latein beschäftigen und versteht mehr die übergreifenden Zusammenhänge.....
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Re: Muß Latein nützen?

Beitragvon Tiberis » Di 23. Jun 2009, 00:12

RM hat geschrieben:Aber ja, natürlich haben sie sich auch mit solchen Fragen beschäftigt. Es war ihnen bewußt, daß sie sich - sozusagen als schrullige Paradiesvögel - öfters nach dem Sinn ihrer Beschäftigung mit der Philosophie fragen lassen mußten


naja, sinn und nutzen sind schon zwei verschiedene dinge. und eine frage zur diskussion stellen, wie ich schrieb, oder auf sie zu antworten,ebenfalls.
aber seis drum. der sinn der bildung ist evident, die frage nach dem nutzen geht hingegen am wesen der bildung vorbei. nützt es mir oder irgendjemand anderem, wenn ich über Schubert-sonaten bescheid weiß oder über die barocke architektur? es KANN vielleicht nützen oder auch nicht. aber danach zu fragen, ob latein/bildung/ musik usw. nützen MUSS , ist schlichtweg unsinnig. sorry.
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Re: Muß Latein nützen?

Beitragvon RM » Di 23. Jun 2009, 08:15

Ich halte die Frage nach dem Nutzen keineswegs für unsinnig, denn die Antwort darauf entscheidet letztendlich über die Zukunft solcher Dinge. Beim DAV-Kongreß in München hat Friedrich Maier eine Statistik darüber vorgestellt, warum Eltern ihre Kinder Latein lernen lassen. Aus dieser Statistik konnte man einiges darüber ablesen, welchen Nutzen - und welchen Sinn - Eltern dem Lateinunterricht beimessen. Kurz zusammengefaßt kann man das in seinem Reclam-Bändchen "Warum Latein?" nachlesen. Die Inhalte dessen, was im Lateinunterricht vermittelt wird, spielen dabei interessanterweise eine untergeordnete Rolle, es geht hauptsächlich um die Vermittlung sprachlicher Kompetenz.
Was übrigens Sinn und Nutzen angeht, so ist der Nutzen dem Sinn, der ja seit Goethe am Anfang war und ist, natürlich untergeordnet, aber damit in steter Wechselwirkung. :)

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