poemata dilecta

Für alle Fragen rund um Latein in der Schule und im Alltag

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Beitragvon consus » Sa 7. Apr 2007, 14:42

Beim Lesen ahnt man wieder etwas von Kalliopes Gespür fürs Kongeniale... --- Jede(r) von uns weiß aber, dass Übersetzungen nie ans Original heranreichen können, und so schlage ich vor, dass wir in diesem Philologen-Forum einmal eine bescheidene Reflexion über die Kunst des Übersetzens beginnen sollten (nach den Feiertagen). Auf kleine Beispiele können wir hier ja nun schon zurückgreifen.
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Beitragvon consus » Sa 7. Apr 2007, 18:21

An dieser Stelle, amici illustrissimi, ein mittelalterlicher Oster- bzw. Frühlingsgruß (Anonymus, 13. Jh.):

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Veris ad imperia
Renascuntur omnia,
Amoris prooemia
Corda premunt saucia
Querula melodia
    Gratia praevia,
    Corda marcentia
    Media.
Vitae vernat flos
Intra nos.

Suspirat luscinia,
Nostra sibi conscia
Impetrent suspiria,
Quod sequatur venia;
Dirige, vitae via,
    Gratia praevia
    Viae dispendia
    Gravia.
Vitae vernat flos
Intra nos.
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Beitragvon Apollonios » So 8. Apr 2007, 20:06

Salvete amici,

hier mein Versuch:

frühling herrscht, und alles
wird neu geboren.
erste worte amors
drängen wunde herzen
zu klageliedern,
voraus eilt sein liebreiz
mitten ins welke herz!
frühling macht in uns
lebens blume.

nachtigallen seufzen -
auch unsre seufzer,
schuldbewußte, wirken,
daß erhörung folge.
wende, weg des lebens -
voraus eilt dein liebreiz -,
schweren verlust am weg!
frühling macht in uns
lebens blume.
וָאֹמַר מִי־יִתֶּן־לִּי אֵבֶר כַּיּוֹנָה אָעוּפָה וְאֶשְׁכֹּנָה ׃
et dixi quis dabit mihi pinnas columbae ut volem et requiescam
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Beitragvon Apollonios » Fr 25. Mai 2007, 18:10

Mit den besten Wünschen für ein geistvolles Pfingstfest hier eine der schönsten Hymnen an den Heiligen Geist:

veni creator Spiritus,
mentes tuorum visita,
imple superna gratia,
quae tu creasti, pectora.

qui diceris Paraclitus,
donum Dei altissimi,
fons vivus, ignis, caritas
et spiritalis unctio.

tu septiformis munere,
dextrae Dei tu digitus,
tu rite promissum Patris
sermone ditans guttura.

accende lumen sensibus,
infunde amorem cordibus,
infirma nostri corporis
virtute firmans perpeti.

hostem repellas longius
pacemque dones protinus;
ductore sic te praevio
vitemus omne noxium.

per te sciamus da Patrem
noscamus atque Filium,
te utriusque Spiritum
credamus omni tempore.


In mein geliebtes Deutsch übersetzt:

Komm, schöpfrischer Geist, besuche
der Deinen Denken, erfülle
mit himmlischer Gnade die Seelen
all jener, die du geschaffen.

Der du der Tröster genannt wirst,
Geschenk des Gottes, des höchsten,
lebendger Quell, Feuer, Liebe
und unsre geistliche Salbung.

Du siebengestaltge Gnade,
du Finger der Rechten Gottes,
du Heilsversprechen des Vaters,
du schenkst der Kehle die Sprache.

Entzünde ein Licht den Sinnen,
voll Liebe gieße die Herzen,
die Schwäche unseres Leibes
mach stark durch dauernde Tugend.

Vertreib den Feind in die Ferne,
gib uns beständigen Frieden.
Wenn du als Leiter vorangehst,
so meiden wir alles Übel.

Durch dich laß den Vater uns kennen,
und laß uns den Sohn verstehen,
an dich, den Geist dieser beiden,
laß du uns alle Zeit glauben.
וָאֹמַר מִי־יִתֶּן־לִּי אֵבֶר כַּיּוֹנָה אָעוּפָה וְאֶשְׁכֹּנָה ׃
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Beitragvon Apollonios » Di 29. Mai 2007, 16:08

Und hier noch ein Hymnus, nicht minder schön, von Stephan Langton, Bischof von Canterbury, + 1228 - der den vorhergehenden, von einem Anonymus des 7./8. Jhs. verfaßten Hymnus zum Vorbild nahm:

veni Sancte Spiritus,
et emitte cælitus
lucis tuæ radium.

veni pater pauperum,
veni dator munerum,
veni lumen cordium.

consolator optime,
dulcis hospes animæ,
dulce refrigerium.

in labore requies,
in æstu temperies,
in fletu solatium.

o lux beatissima,
reple cordis intima
tuorum fidelium.

sine tuo numine
nihil est in homine,
nihil est innoxium.

lava quod est sordidum,
riga quod est aridum,
sana quod est saucium.

flecte quod est rigidum,
fove quod est frigidum,
rege quod est devium.

da tuis fidelibus
in te confidentibus
sacrum septenarium.

da virtutis meritum,
da salutis extitum,
da perenne gaudium.

Zu Deutsch:

Komm, Heiliger Geist,
und sende vom Himmel
den Strahl deines Lichtes.

Komm, Vater der Armen,
komm, Geber der Gnaden,
komm, Licht unsrer Herzen.

Du bester Tröster,
du holder Herzensgast
und holde Erquickung.

Du Ruhe in Arbeit,
du Lindrung in Hitze
du Trost in Betrübnis.

O seligstes Licht,
zuinnerst erfülle
die Herzen der Gläubgen.

Wo du nicht waltest,
ist nichts im Menschen,
ist nichts unschädlich.

Beflecktes wasche,
Verdorrtes tränke,
Verletztes heile.

Erstarrtes rühre,
Erfrornes wärme,
Verirrtes lenke.

Gib deinen Treuen,
die dir vertrauen,
das Siebenfach Heilge.

Gib Wohltat der Tugend,
gib heiliges Sterben,
gib ewige Freude.
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Beitragvon Sokrates Palaios » So 3. Jun 2007, 21:46

Die "poemata dilecta" habe ich mit Interesse gelesen und die Übersetzungen bewundert . Habe mich auch gewundert, dass nichts mehr nachkommt. Die Vertonungen des "dies irae" sind ergreifend, der Inhalt jedoch so düster, dass man es in der heutigen kirchlichen Liturgie ohne Verlust weglassen könnte. Wie viel großartiger und schöner das "veni creator spiritus" oder das "veni sancte spiritus". Hier können die Deutungen variieren; der Inhalt wird bedeutend bleiben.

Eine metrisch angeglichene Übersetzung, eventuell auch mit Endreimen, halte ich für unmöglich - und ist auch gottseidank nicht erforderlich. Wieder einmal ein Anlass, Latein zu lernen. Bitte weitersagen!
οἶδα οὐκ εἰδώς
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Beitragvon consus » So 3. Jun 2007, 22:56

Ecce carmen*) Michaelis Marulli († 1500):

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Ad Neaeram.

Cum tu candida sis magis ligustro,
Quis genas minio, Neaera, tinxit?
Quis labella tibi notavit ostro?
Unde sunt capiti aurei capilli?
Quis supercilii nigravit arcum?
Quis faces oculis dedit potentes?
O quies animi laboriosa!
O labor nimium mihi quiete!
O amarities petita votis,
Qua mori sine amem volens lubensque!

Nonne in mentem nobis venit faciei ab Alexandro Botticelli († 1510) elegantissime pictae?

Quis vestrum carmen manu eleganti in Theodiscum convertet?

_________________________
*) Michaelis Marulli carmina edidit Alessandro Perosa, Turici, s.a. (1951), p. 51 (epigr. 2, 44).
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Beitragvon Apollonios » Mo 4. Jun 2007, 10:19

@Sokrates Palaios: Es freut mich, daß diese schönen Gedichte samt Übersetzungen auch andere erfreuen. Das Dies Iræ ist übrigens seit 1971 nicht mehr Teil der Liturgie - was ich begrüße. Doch ist es in seiner Düsterkeit ein eindrucksvolles Gedicht über die Angst.
Was passiert, wenn man sklavisch Metrum und Reimschema kopiert, sieht man hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Dies_irae# ... bersetzung
:cry:

@Consus: lepidissimum nobis monstravisti carmen - et concivisti ambitionem meam. fortasse et adiuvabit Apollodorus noster.
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Beitragvon Apollonios » Mo 4. Jun 2007, 19:21

Nun ja. Es ist ein Versuch - ist es Eurer Meinung nach legitim, quies hier mit Traum zu übertragen?

Da du weißer bist als die Ligusterblüte -
Wer malt dir die Wangen, Neaera, mit Mennig?
Wer hat dir die Lippen purpurn nachgezeichnet?
Woher sind sie, deines Hauptes goldne Haare?
Wer auch schwärzte deiner Augenbrauen Bogen?
Wer gab deinen Augen diese starken Fackeln?
O du meines Herzens Traum, du mühevoller!
O zu viel der Mühe hab ich durch das Träumen!
O du Bitternis, um die ich betend flehe -
Ohne die ich sterben wollte gern und willig.

http://www.kunstkopie.de/kunst/sandro_b ... 001902.jpg
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Beitragvon consus » Mo 4. Jun 2007, 22:57

A Calliopa nostra Marulli carmen tam ingeniose Theodisce redditum est, ut cum pictura Botticelli optime congruat. Macte virtute! Vox Theodisca „Traum“ mihi quidem valde probatur. Cetera quoque iuvat legere carmina, quae Marullus Neaerae amore incensus condidit. Nonne Neaera specie et vultu similis videtur esse Veneris quoque Botticellianae?
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Beitragvon Tiberis » Di 5. Jun 2007, 00:22

adeste, hendecasyllabi, quot estis... :D
hier also ein weiterer versuch:

wo du weißer , Neaera, als liguster
strahlst - wer färbte mit mennig dir die wangen?
wer bezeichnet' mit purpur dir die lippen?
woher sind deines hauptes goldne haare?
und wer schwärzte den bogen deiner brauen?
wer ließ machtvoll erglühen deine augen?
o du ruhe des herzens, mühevolle!
o du mühsal, mir allzu ruhig scheinend !
o du bitterkeit, du von mir ersehnte,
ohne dich möcht ich sterben, gern und freudig.
ego sum medio quem flumine cernis,
stringentem ripas et pinguia culta secantem,
caeruleus Thybris, caelo gratissimus amnis
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Beitragvon consus » Di 5. Jun 2007, 01:20

Maximas gratias et tibi, optime Tiberis, pro Marulli carmine commodissime in Theodiscum converso. Quicumque hoc carmen cum pictura Botticelli comparaverit, is recordabitur clarissimum illud Simonidis: „Poëma loquens pictura, pictura tacitum poëma debet esse“ (ad Herennium de ratione dicendi 4, 28, 39).
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Beitragvon consus » Do 7. Jun 2007, 12:19

Salvete, amici!

Catulli c. 85 alio loco a Socrate nostro Palaio feliciter proposito non alienum videtur et hoc describi Marulli carmen, quippe quod paulum ex arte Catulliana olere putem – Mit dem Blick auf Catulls c. 85 scheint eine ähnliche Stimmung auch im folgenden Epigramm des Michele Marullo erkennbar zu sein (epigr. 1, 37):

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De suo amore

Iactor, dispereo, crucior, trahor huc miser atque huc,
    Ipse ego iam quis sim nescio aut ubi sim:
Tot simul insidiis premor undique: proh dolor! in me
    Saevitiae Cypris dat documenta suae.
Saevitiae documenta suae dat, ego hanc tamen unam
    Depereo, utque nocet, sic libet usque sequi.
Qua siquis miserum solam me liberet horam,
    Hic mihi sit Phoebo doctior et melior.
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Beitragvon Sokrates Palaios » Do 7. Jun 2007, 19:32

Hier mein Versuch mit Catull, c. 72:

Einstmals sagtest du doch, du kenntest allein den Catullus,
Lesbia, nicht einmal Zeus wollest du tauschen mit mir.

Damals liebte ich dich - nicht wie ein jeder sein Liebchen,
doch wie ein Vater den Sohn oder den Schwiegersohn mag.

Jetzt aber kenn ich dich gut: Obwohl ich noch feuriger liebe,
bist du mir weniger wert, bist du mir nur noch galant.

Wie das nur möglich sei, fragst du: Den Liebenden treibt solches
Unrecht
mehr zu heißer Begier - wenig bekümmert um dich.

HOC NUNC VOBIS OFFERO
MELIORA EXSPECTO

valete, amici!
οἶδα οὐκ εἰδώς
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Cat. c. 72.

Beitragvon consus » Do 7. Jun 2007, 19:50

Servus, Sokrates!
Sokrates - ein Freund jetzt der Dichtkunst: wunderbar!
Die Übersetzung "im Versmaß der Urschrift", wie es so schön heißt, sagt mir zu, bis auf den vorletzten Vers, dem ich nicht das Prädikat Hexameter zuerkennen kann. Müsste auch noch zu schaffen sein!
Agedum, amice.
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