"sibi": reflexiv und doch auch wieder nicht?

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"sibi": reflexiv und doch auch wieder nicht?

Beitragvon Theo » Fr 8. Aug 2014, 09:10

Regula Benedicti c.49 v6

"..., ut unusquisque super mensuram sibi indictam aliquid propria voluntate cum
gaudio Sancti Spiritus offerat Deo"

So möge jeder über das ihm zugewiesene Maß hinaus aus eigenem Willen in
der Freude des Heiligen Geistes Gott etwas darbringen.

Schwierigkeiten bereitet das Verständnis von "mensura sibi indictam".
Bezeichnet diese Wendung

a) das Maß, das "unusquisque" sich selbst zugewiesen/auferlegt hat
b) das Maß, das "unusquisque" von jemand anderem auferlegt worden ist (z.B. vom Abt)
c) das Maß, das "unusquisque" zugewiesen ist, wobei offen bleibt, ob durch sich selbst zugewiesen oder durch jemand anders

Wenn b zutrifft, würde das heißen, dass "sibi" zwar der Form nach ein Reflexivpronomen ist, aber nicht eigentliche reflexive Bedeutung hat. "Sibi" würde dann lediglich bedeuten, dass nicht einem anderen als dem Satzsubjekt (unusquisque) das Maß zugewiesen ist, es würde jedoch nicht bedeuten, dass unusquisque sich selbst das Maß auferlegt hat.
Wie aber müsste dann "einer, der sich selbst etwas auferlegt hat" im Lateinischen lauten?

Gratias tibi/vobis ago
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Re: "sibi": reflexiv und doch auch wieder nicht?

Beitragvon romane » Fr 8. Aug 2014, 09:21

indictam ist Passiv

im Falle a) hätte dann "a se" stehen müssen
Die Freiheit ist ein seltsames Wesen - wenn man es gefangen hat, ist es verschwunden

www.mbradtke.de
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Re: "sibi": reflexiv und doch auch wieder nicht?

Beitragvon iurisconsultus » Fr 8. Aug 2014, 11:36

Das Reflexivpronomen Dativ sibi bezeichnet
c) das Maß, das "unusquisque" zugewiesen ist, wobei offen bleibt, ob durch sich selbst zugewiesen oder durch jemand anders
Für
b) das Maß, das "unusquisque" von jemand anderem auferlegt worden ist (z.B. vom Abt)
müsste mE ein erläuterndes Attribut stehen, außer es ergibt sich bereits aus dem Gesamtzusammenhang.

im Falle a) hätte dann "a se" stehen müssen
Müsste
a) das Maß, das "unusquisque" sich selbst zugewiesen/auferlegt hat
nicht "super mensuram se ipsum indictam" lauten?
Qui statuit aliquid parte inaudita altera,
aequum licet statuerit, haud aequus fuit.
(Sen. Med. 199-200)
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Re: "sibi": reflexiv und doch auch wieder nicht?

Beitragvon Zythophilus » Fr 8. Aug 2014, 11:41

Der Mönch hat ein gewisses Arbeitspensum (mensura), das ihm (sibi) zugewiesen ist. Der, der zuweist, wohl sein Vorgesetzter. Darüber hinaus soll er freiwillig etwas tun.
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Re: "sibi": reflexiv und doch auch wieder nicht?

Beitragvon Tiberis » Fr 8. Aug 2014, 12:28

iurisconsultus hat geschrieben:Müsste

a) das Maß, das "unusquisque" sich selbst zugewiesen/auferlegt hat

nicht "super mensuram se ipsum indictam" lauten?


der dativ muß bleiben: sibi ipsi
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Re: "sibi": reflexiv und doch auch wieder nicht?

Beitragvon Zythophilus » Fr 8. Aug 2014, 22:54

Um zur Frage "reflexiv oder nicht" zurückzukommen: Reflexiv ist das Pronomen natürlich, da es sich auf das Subjekt des Satzes bezieht. Falls unterschwellig mitgefragt wurde, ob es ein indirektes Reflexivpronomen sei, so kann man das eindeutig verneinen.
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Re: "sibi": reflexiv und doch auch wieder nicht?

Beitragvon Prudentius » Sa 9. Aug 2014, 10:19

Hallo Theo,

du bist gerade dabei, den Begriff der "indirekten Reflexivität" zu entdecken: in deiner Überschrift fragst du, wieso das reflexive "sibi" durch das nichtreflexive "ihm" übersetzt wird. Im L. gelten Partizipien nicht als eigene Sätze, daher ist unusquisque weiterhin das Subjekt, daher sibi; im D. trennen wir die beiden Verben stärker ("zuweisen" und "opfern"), daher "ihm".
Wenn du ein wenig Cäsar-Routine hast, kennst du vielleicht "Caesar dicit se...", "C, sagte, er ...", der Lateiner rechnet den ACI nicht als eigenen Satz, sondern nur als Satzglied.

lgr. P. :)
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Re: "sibi": reflexiv und doch auch wieder nicht?

Beitragvon Theo » Sa 9. Aug 2014, 14:11

"ist unusquisque weiterhin das Subjekt, daher sibi" (prudentius)

ja, lieber prudentius, ganz habe ich die Sache noch nicht durchschaut.

Ich will einmal andersherum fragen.
1) ?
Wieso heißt es nicht "ei" statt "sibi"?
"unusquisque (super mensuram ei ab abbato indictam) offerat" : Jeder soll über das ihm vom Abt auferlegte Maß hinaus etwas darbringen.
Denn unusquisque hat ja nicht sich selbst (sibi) das Maß auferlegt, das er überbieten soll, sondern es wurde ihm (ei) auferlegt. Unusquisque ist nur das grammatische Subjekt, nicht das logische (=Abt oder sonstwer).
Das Pronomen "ei" würde sich auf unusquisque beziehen, und zwar insofern unusquisque der Passive ist: derjenige, dem das Maß auferlegt worden ist.
Das Pronomen "sibi" würde sich auf unusquisque beziehen, und zwar insofern unusquisque der Aktive ist: derjenige, der sich selbst das Maß auferlegt hat. Siehe 2) ?
2) ?
"Unusquisque (super mensuram sibi a se indictam) offerat" : Jeder soll über das Maß, das er sich selbst auferlegt hat, hinaus etwas darbringen
3) ?
"Unusquisque (super mensuram ei a se indictam) offerat" : Jeder soll über das Maß,
das von unusquisque ei (ihm=einem anderen als unusquisque) auferlegt wurde, hinaus etwas darbringen
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Re: "sibi": reflexiv und doch auch wieder nicht?

Beitragvon marcus03 » Sa 9. Aug 2014, 14:48

Theo hat geschrieben:Wieso heißt es nicht "ei" statt "sibi"?


Wie Prudentíusschon sagte: Weil SIBI sich auf das Subjekt des Satzes bezieht. Mit EI wäre eine andere/dritte Person gemeint.
Denkbar wäre noch ein dat. auct. , dann würde es aber wohl SIBI IPSI lauten, wenn es um das von ihm selbst (sich) auferlegte Maß gehen sollte.
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Re: "sibi": reflexiv und doch auch wieder nicht?

Beitragvon Prudentius » Sa 9. Aug 2014, 17:47

Theo hat geschrieben: ganz habe ich die Sache noch nicht durchschaut.


Wir wollen versuchen, dir dazu zu verhelfen!

1) ?
Wieso heißt es nicht "ei" statt "sibi"?


Dein "ei" verweist auf das Subjekt des Satzes, unusquisque, ist also reflexiv; dafür gibt es das Reflexivpronomen.

Oben habe ich schon gesagt, dass im L. das Pc. keinen Satz darstellt; dein "ei" befindet sich also sozusagen noch im Kraftfeld des "Unusquisque ... offerat"-Satzes.

Beachte auch, dass das Ppp. eine subjektslose Verbform ist: "indictum zugewiesen"; mit deinen Überlegungen zum Subjekt des Zuweisens befindest du dich also im Abseits, da wird abgepfiffen.

"Unusquisque ist nur das grammatische Subjekt, nicht das logische (=Abt oder sonstwer)": Spiele nicht Grammatik und Logik gegeneinadner aus! Unusquisque ist das einzige Subjekt des Satzes.

Vllt. kann man es sich so klarmachen: die Abgrenzungen des Wirkungsbereichs der Prädikate können im L. und D. unterschiedlich sein; wenn sie sich überschneiden, dann spricht man von "indirektem Reflexivum", wie jetzt hier, und auch bei "Caesar dicit se...", aber wenn es noch nicht klar ist, frage zurück!
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