Zythophilus hat geschrieben:Anders als bei einer modernen, sich weiter entwickelnden Sprache fehlenden normierende Instanzen, die entsprechende Entwicklungen überwachen bzw. zumindest dokumentieren, was in dieser Hinsicht geschieht. Die geringe Anzahl der aktiven Verwender verhindert das, es gibt keinen allgemeinen Sprachgebrauch in Bezug auf Neologismen. Natürlich haben wir eine Handvoll von Autoritäten, die neue Bezeichnungen schaffen, aber diese Autoritäten tun das keineswegs einheitlich und sind auch nicht allgemein anerkannt.
Bei natürlichen lebenden Sprachen entscheidet keine andere Instanz oder Autorität über das Produktivitätsprofil der in ihr zur Verfügung stehenden Wortbildungsprozesse als die Sprachgemeinschaft selbst in den ungezählten Momenten vielschichtiger verbaler Kommunikation wie in der Produktion verschiedener Textsorten. Auch das Auftreten neuer Bildungsmuster oder die Modifikation bestehender wird dadurch im Lauf der Geschichte gesteuert.
Die Vorstellung, derlei durch irgendwelche Experten zentral entscheiden zu wollen, ist folgerichtig typisch für eine untote Sprache wie das Lateinische, wo diese regulative Kraft bestenfalls in Rudimenten existiert. Es gibt keine lateinischen Muttersprachler, die Anzahl der kompetenten Sprecher ist beschränkt, deren Kompetenz zudem von ihrer (erst)sprachlichen Herkunft und Ausbildungsbiographie (geringe Diversität) wesentlich beeinflusst, sie leben in einer Art phantasmatischer Diaspora, die von ihnen betriebene Kommunikation und Textproduktion ist marginal und höchst selektiv usf.
Dass sich einzelne Individuen zu
logodaedali aufschwingen können, die durch die schiere Anzahl der nach von ihnen ausgewählten Wortbildungsmustern gebildeten Ausdrücke, welche Dinge und Ideen der gegenwärtigen Lebenswelt in Latein sprechenden Zirkeln verkehrsfähig machen sollen, einen untypisch großen Einfluss haben, ist nur in so einer Ausgangslage denkbar. Man stelle sich solche Ambitionen einmal auf die deutsche Gegenwartssprache übertragen vor. An der unsäglichen Fruchtbarkeit des Adjektivsuffixes
-bar beispielsweise kann man verzweifeln, sich ihm persönlich verweigern und gegen seine zirkulierenden Abkömmlinge mit spitzer Feder wettern, aber niemand käme ernsthaft auf die Idee, es durch Beschluss von Koryphäen, Gremien und Konferenzen im Namen irgendwelcher Sprachideale gleichsam zwangssterilisieren zu lassen. Wie auch?
Die Diskussion, die im Übrigen jemand eröffnet hat, der die Ergebnisse von Derivation hartnäckig als Komposita bezeichnet, also nur eine sehr vage Kenntnis der Materie besitzen dürfte, dreht sich neben der Frage, ob nicht da oder dort unter semantischen Gesichtspunkten bei der Neubildung gepatzt wurde (eine, wie man an Beiträgen von Willimox und Co sehen kann, nicht so einfach zu entscheidende Angelegenheit) u.a.um Versuche, historische Produktivitätsmuster mit verschiedenen Argumenten auf die Gegenwart zu übertragen. Hier balgen sich dann Cetheger im Lendenschurz mit Ciceronianern und den Anhängern eines mehr oder minder fröhlichen Eklektizismus um die Vorherrschaft.
Der Versuch aus einem selbst problematischen und historisch vielschichtigen Ausdrucksideal heraus, den aktuellen Produktivitätsgrad eines Bildungsmodells nach einem historischen Befund zu modellieren, müsste, meine ich, aber erst einmal ein komplexes Modell von Produktivität entwickeln, um, was die Sprachgeschichte ihm darbietet, überhaupt umfassend verstehen und die entsprechende Regeln ableiten zu können. Was er zu imitieren gedenkt, entstammt einst (d.h. wenigstens bis zur Spätantike) für lebende Sprachen typischen Prozessen, ist also nach diesem Maß zu analysieren, will man die Komplexität der Vorgänge nicht unterbieten.
Wer nur die Frequenz bei den Autoren seiner Wahl zählt und meint, er könne, weil das Modell häufig sei und semantisch seinen Absichten entspreche, als
logodaedalus ungeniert loslegen, rechnet z.B. nicht mit Bildungsrestriktionen, die auch ausgesprochen produktive Fälle treffen können. Er hat auch noch keinen Begriff davon, wie Textsorten, stilistische Präferenzen und Registerwahl diese Ergebnisse beeinflussen. Überdies ist zu bedenken, dass nicht alles, was einem Modell auf der Ebene der Regeln entspricht, schon als akzeptabel gelten kann - manche formal einwandfreie Neubildung erscheint kompetenten Sprechern lebender Sprachen trotzdem kurios oder lächerlich. Man kann den Gedanken wagen, dass das in der Geschichte nicht anders war, und zwar in subtilerem und umfassenderem Maße als das polemische Auseinandersetzungen über einzelne Wortbildungsphänomene bewahrt haben.
Dass zu einem bestimmten Zeitpunkt unproduktive Wortbildungselemente nicht wieder produktiv werden können oder dürfen, steht auch nirgendwo in Erz geschrieben. Beispiele für gleichsam aus dem Kälteschlaf erwachte Bildungsweisen gibt es in zahlreichen Sprachen.
All diese keineswegs erschöpfenden Aspekte führen noch einmal auf der Ebene der Imitation zum Problem des fehlenden natürlichen Regulativs einer Sprachgemeinschaft, wie es lebende Sprachen besitzen, zurück.