Regula Benedicti: "tremore divino"/"cui iubeat"

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Regula Benedicti: "tremore divino"/"cui iubeat"

Beitragvon Theo » Do 14. Aug 2014, 15:03

Vielleicht gibt es da draussen philologische Heinzelmännchen?

1. Frage zu "cum tremore divino" in RB 50,3

"... agant ibidem opus Dei, ubi operantur, cum tremore divino flectentes genua."

"dann müssen sie den Gottesdienst an ihrem Arbeitsplatz halten. Mit Ehrfurcht
sollen sie vor Gott die Knie beugen."

Ist "divino" attributives Adjektiv zu tremore (göttliches Zittern, i.e. Zittern vor Gott) oder ist "divino" substantiviertes Adjektiv (mit Zittern vor dem Göttlichen)?
Müsste man im ersten Fall von einer Attributionsanalogie sprechen, vergleichbar der Wendung "gesunde Medizin"? Denn gemeint ist selbstverständlich nicht eigentlich ein göttliches Zittern im Sinne eines zitternden Gottes, sondern ein Zittern vor Gott.
Um welche Art von Dativ oder Abl. würde es sich handeln, falls "divino" als substantiviertes Adjektiv aufzufassen ist?

2. Frage zu "cui illud iubeat dari" in RB 54,2.3

"Quod si etiam a parentibus suis ei quicquam directum fuerit non praesumat suscipere illud, nisi prius indicatum fuerit abbati.
Quod si iusserit suscipi, in abbatis sit potestate cui illud iubeat dari, ..."

"Selbst wenn seine Eltern ihm etwas geschickt haben, darf er sich nicht
anmaßen, es anzunehmen, ehe der Abt benachrichtigt wurde.
Hat der Abt die Annahme erlaubt, kann er immer noch verfügen, wem es zu geben ist."
wörtlich: "sei in der Macht des Abtes, für wen (cui) er anordnet, dass illud (=das von den Eltern Zugeschickte) gegeben werde"

Ist "cui" aufzufassen als dativus commodi in der Funktion eines Relativpronomens oder eines Fragepronomens in einem indirekten Fragesatz?

Ist "illud dari" ein AcI?

Zu berücksichtigen ist, dass iubere im Vulgärlatein den Dativ regiert im Unterschied zum klassischen Latein (Akk.)
Gratias
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Re: Regula Benedicti: "tremore divino"/"cui iubeat"

Beitragvon marcus03 » Do 14. Aug 2014, 15:45

1. dīvīnus, a, um, Adi. m. Compar. u. Superl. (divus), I) göttlich, Gott gehörig, ihm zukommend, auf ihn sich beziehend, von ihm herrührend,

2. Es ist ein mit einem ACI verschränkter indir. Fragesatz
cui: Dativobjekt zu dare: ... wem es nach seinem Befehl /anordnungsgemäß gegeben werden solle
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Re: Regula Benedicti: "tremore divino"/"cui iubeat"

Beitragvon Theo » Fr 15. Aug 2014, 09:43

@marcus03
Danke für deine klärenden Ausführungen.

"in abbatis sit potestate cui illud iubeat dari"
Aus rein theoretischem Interesse darf ich die Frage anfügen, ob es prinzipiell auch möglich wäre, dass sich nicht "dari" auf "cui" bezieht (wem gegeben werde), sondern dass sich "iubeat" auf "cui" bezieht, zumal Benedikt iubere regelmäßig mit Dativ gebraucht?

1) cui dari: wem gegeben zu werden (= wem, dass illud gegeben werde) befiehlt der Abt
2) cui iubeat: wem (=zugunsten von wem/für wen) der Abt befiehlt, dass "illud" gegeben werde

Wie gesagt, eine rein theoretische Frage. Ich halte deine Variante für weit wahrscheinlicher.
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Re: Regula Benedicti: "tremore divino"/"cui iubeat"

Beitragvon marcus03 » Fr 15. Aug 2014, 10:01

Theo hat geschrieben: zumal Benedikt iubere regelmäßig mit Dativ gebraucht?


Wenn du damit meinst "alicui aliquid facere iubere", müsste es aber DARE lauten. Dann wäre mit CUI der Befehlsempfänger gemeint. Dadurch ergäbe sich ein anderer Sinn und die vorliegende Konstruktion ginge mit DARI nicht mehr auf. :?

cf:
m. Dat. pers. u. Infin., iussit centurioni custodire eum, Vulg. act. apost. 24, 23 (aber die Stellen Cic. ad Att. 9, 13, 2. Curt. 5, 6 [20], 8; 10, 8 [25], 4 sind jetzt geändert u. Liv. 42, 43, 6 gehört quis [= quibus]

http://www.zeno.org/Georges-1913/A/iubeo?hl=iubeo
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Re: Regula Benedicti: "tremore divino"/"cui iubeat"

Beitragvon Theo » Fr 15. Aug 2014, 13:57

hallo, marcus03

Ich würde nicht "alicui aliquid facere iubere" zugrundelegen, sondern "alicui aliquid fieri iubere".
Diese Wendung schiene mir dann freilich doppeldeutig:

1) jemandem befehlen, dass etwas getan wird (alicui = Befehlsempfänger)
Beispiel: "Der Chef hat jemandem aufgetragen, dass etwas zu geschehen hat/gemacht werden muss."

2) befehlen, dass etwas für jemanden (zugunsten von jemand) getan wird (alicui ist nicht Befehlsempfänger, sondern bezeichnet denjenigen, zu dessen Gunsten etwas getan wird)

Oder wie würdest du 2) ins Lateinische übertragen? Wäre "alicui aliquid fieri iubere" falsch?
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Re: Regula Benedicti: "tremore divino"/"cui iubeat"

Beitragvon marcus03 » Fr 15. Aug 2014, 15:32

Theo hat geschrieben:Wäre "alicui aliquid fieri iubere" falsch?


Meiner Meinung nach ja. So kann man IUBERE keinesfalls konstruieren. Der Befehlsempfänger muss auch
das Subjekt des "aliquid facere" sein. Das schließt ein Passiv wie FIERI aus. Es ist also nur ein Infinitiv, aber kein ACI möglich.
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Re: Regula Benedicti: "tremore divino"/"cui iubeat"

Beitragvon Prudentius » Fr 15. Aug 2014, 16:01

Um welche Art von Dativ oder Abl. würde es sich handeln, falls "divino" als substantiviertes Adjektiv aufzufassen ist?


Das ist eine falsch gestellte Frage, die kann man nicht beantworten. Eine Frage muss man so stellen, dass es eine Einsetzung gibt, die den Satz wahr macht.
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Re: Regula Benedicti: "tremore divino"/"cui iubeat"

Beitragvon Theo » Fr 15. Aug 2014, 21:02

prudentius,
ich bin mir nicht sicher, ob ich deinen Einwand richtig verstanden habe.

Jedenfalls habe ich mit meiner Frage folgendes gemeint:

1.Falls es zutrifft, dass "divino" in der Wendung "cum tremore divino" ein substantiviertes Adjektiv ("das Göttliche") im Dativ oder Ablativ ist, dann erhebt sich

2. die Frage, um welche Art von Dativ oder Ablativ es sich bei "divino" handeln könnte:
z. B. um einen ablativus respectus ("cum tremore divino" = mit Zittern im Hinblick auf Gott)?

Nun hat aber marcus03 gepostet, dass das Adjektiv "divinus" nach dem lexikalischen Befund per se die Bedeutungen hat: auf Gott sich beziehend, von Gott herrührend. "tremor divinus", das "göttliche Zittern", ist demnach als von Gott herrührendes Zittern (des Mönchs) vor Gott zu verstehen, nicht als Gott, der zittert.
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Re: Regula Benedicti: "tremore divino"/"cui iubeat"

Beitragvon marcus03 » Sa 16. Aug 2014, 07:49

Theo hat geschrieben:auf Gott sich beziehend, von Gott herrührend. "tremor divinus", das "göttliche Zittern", ist demnach als von Gott herrührendes Zittern (des Mönchs) vor Gott zu verstehen,


Das ist die naheliegenste Erklärung, denke ich. In DIVINO etwas anderes zu sehen als ein ganz gewöhnliches Adjektiv, zumal es unmittelbar nach einem dazu passenden Substantiv steht, hieße die Sache unnötig kompliziert zu machen. Das Problem ist eigentlich nur, hier die richtige Bedeutung von DIVINUS zu treffen. Doch das dürfte sich nun erledigt haben. Vermutlich hat bei dir die "vage" Bedeutung "göttlich" das Problem ausgelöst, die so natürlich nicht passt. Deshalb sollte man, wenn man merkt, dass eine bestimmte Bedeutung Fragen aufwirft, immer zuerst einen Blick in ein gutes Wörterbuch werfen, bevor man nach anderen Erklärungen sucht. Gelernte Standardbedeutungen reichen halt oft nicht aus. DIVINUS ist offenbar ein klassisches Beispiel dafür.
Dennoch finde ich es bewundernswert, wieviel Gedanken du dir deswegen gemacht hast. :D Denken kann ja bekanntlich nie schaden, auch wenn es nicht immer in die richtige Richtung geht, was meistens daran liegt, dass man eine "Kleinigkeit" übersehen hat wie hier das Bedeutungsspektrum eines Adjektivs. :)

PS:
Die von dir eingangs erwähnte Übersetzung "das Zittern vor dem Göttlichen" ist nicht möglich. In diesem Fall müsste ein GEN. OBIECT. stehen, der aber wiederum wegen der Bedeutungen von TREMOR kaum möglich ist.
Ich hätte am ehesten noch an einen ABL. CAUSAE gedacht (Zittern wegen [der Gegenwart] des Göttlichen),aber auch das wäre eine unnötige Interpretation und syntaktisch/grammatisch höchst problematisch und ist daher m.M.n. letztlich auszuschließen.
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Re: Regula Benedicti: "tremore divino"/"cui iubeat"

Beitragvon Theo » Sa 16. Aug 2014, 13:38

Wäre "alicui aliquid fieri iubere" falsch?

marcus03 hat geschrieben:Meiner Meinung nach ja. So kann man IUBERE keinesfalls konstruieren. Der Befehlsempfänger muss auch
das Subjekt des "aliquid facere" sein. Das schließt ein Passiv wie FIERI aus. Es ist also nur ein Infinitiv, aber kein ACI möglich.


marcu03,
um noch einmal auf die obige Frage zurückzukommen: Ich habe im Web eine Formulierung gefunden, von der mir vorkommt, dass sie eben doch analog konstruiert ist.

"Nudus enim dativus quoniam significat alicui aliquid fieri, sive id fiat in commodum, ...."
(Eripidis tragoediae)
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Re: Regula Benedicti: "tremore divino"/"cui iubeat"

Beitragvon marcus03 » Sa 16. Aug 2014, 14:12

Theo hat geschrieben:Nudus enim dativus quoniam significat alicui aliquid fieri, sive id fiat in commodum, .


= weil der bloße Dativ zeigt an/darauf hinweist, dass jemandem etwas entsteht/widerfährt sei es dass es zum Vorteil geschieht, ...

Ich glaube nicht, dass man das miteinander so ohne weiteres vergleichen kann. Es heißt ja nicht, dass der Dativ jemandem anzeigt,dass etwas geschieht, sondern anzeigt, dass jemandem etwas geschieht.
Der ACI liefert hier eine reine Inhaltsangabe.Ich hoffe, du verstehst, worauf ich hinauswill. :)
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Re: Regula Benedicti: "tremore divino"/"cui iubeat"

Beitragvon Theo » Sa 16. Aug 2014, 15:56

"Nudus enim dativus quoniam significat alicui aliquid fieri, sive id fiat in commodum, ..."

[quote="marcus03"]= weil der bloße Dativ zeigt an/darauf hinweist, dass jemandem etwas entsteht/widerfährt sei es dass es zum Vorteil geschieht, ...

Ich glaube nicht, dass man das miteinander so ohne weiteres vergleichen kann. Es heißt ja nicht, dass der Dativ jemandem anzeigt,dass etwas geschieht, sondern anzeigt, dass jemandem etwas geschieht.
Der ACI liefert hier eine reine Inhaltsangabe.Ich hoffe, du verstehst, worauf ich hinauswill.

abbas iubet alicui aliquid fieri :
Es heißt ja nicht, dass der Abt jemandem befiehlt, dass etwas geschieht/zu geschehen hat, sondern befiehlt, dass jemandem etwas geschieht. Der ACI liefert hier eine reine Inhaltsangabe. Ich hoffe, du verstehst, worauf ich hinauswill (auch wenn ich nie ausschließe, dass ich völlig daneben liege). :P
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Re: Regula Benedicti: "tremore divino"/"cui iubeat"

Beitragvon marcus03 » Sa 16. Aug 2014, 16:17

Theo hat geschrieben:sondern befiehlt, dass jemandem etwas geschieht. Der ACI liefert hier eine reine Inhaltsangabe.


Verstehe. Wenn du es so verstanden haben willst, wird ein Schuh draus und passt grammatisch. Nur inhaltlich hört sich das etwas seltsam an. Im klassischen Latein wird man einen Satz mit FIERI und Dativ nach IUBERE in dem von dir genannten Sinn wohl nicht antreffen.
Gefunden habe ich z.B. nur Folgendes: Imperator pontem fieri iussit. :)
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Re: Regula Benedicti: "tremore divino"/"cui iubeat"

Beitragvon Prudentius » Di 19. Aug 2014, 09:51

1. dīvīnus, a, um, Adi. m. Compar. u. Superl. (divus), I) göttlich, Gott gehörig, ihm zukommend, auf ihn sich beziehend, von ihm herrührend,


Ihr schneidet ja die interessanten Fragen gar nicht an :( !
Welche Gottesvorstellung schwebte den Römern vor? Wie stehen wir Modernen dazu? Kann man die Existenz Gottes beweisen? Ist sie überhaupt denkbar? Unser Denkweg versandet im Irrgarten der unlösbaren Grundfragen.
Unser Denkansatz ist platonisch inspiriert, wir such nach der ewigen Idee Gottes und bekommen sie nicht zu fassen.
Anders geht der angelsächsische Pragmatismus an die Frage heran: Welche Rolle spielt Gott in dem Sprachspiel der Menschen? Welche menschlichen Denkstrukturen stehen hinter dem Reden von Gott?
Offensichtlich kommt man in der Frage auf diese Weise etwas weiter.
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Re: Regula Benedicti: "tremore divino"/"cui iubeat"

Beitragvon marcus03 » Di 19. Aug 2014, 10:15

Hier dürfte es vermutlich um das TREMENDUM ET FASCINOSUM gehen.Das passt gut zum Begriff "Tremor divinus".
cf:
http://de.wikipedia.org/wiki/Mysterium_tremendum

Prudentius hat geschrieben:Anders geht der angelsächsische Pragmatismus an die Frage heran: Welche Rolle spielt Gott in dem Sprachspiel der Menschen? Welche menschlichen Denkstrukturen stehen hinter dem Reden von Gott?
Offensichtlich kommt man in der Frage auf diese Weise etwas weiter.


Vllt. könntest du uns da ein wenig auf die Sprünge helfen, indem du uns die wesentlichen Gedanken skizzierst. Das wird sicher ganz interessant. :D
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