Frage zu einem Zeitverhältnis

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Frage zu einem Zeitverhältnis

Beitragvon Psychopompos » Di 22. Jul 2014, 20:12

Salvete!

Ich habe eine kleine grammatikalische Verständnisfrage zu folgender Cicero-Stelle:

Sed quid ego Socratem aut Theramenem, praestantis viros virtutis et sapientiae gloria, commemoro, cum Lacedaemonius quidam, cuius ne nomen quidem proditum est, mortem tantopere contempserit, ut, cum ad eam duceretur damnatus ab ephoris et esset voltu hilari atque laeto dixissetque ei quidam inimicus: 'contemnisne leges Lycurgi?', responderit: 'ego vero illi maximam gratiam habeo, qui me ea poena multaverit, quam sine mutuatione et sine versura possem dissolvere.' (Cic. Tusc. 1,100)

Nach der Consecutio Temporum müsste doch im Normalfall abhängig von einem Konjunktiv Perfekt die Nebenzeitenfolge eintreten. Aber warum steht dort responderit?

Vielen Dank!

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Re: Frage zu einem Zeitverhältnis

Beitragvon RM » Di 22. Jul 2014, 20:29

Wenn ich mich nicht täusche, haben wir so einen ciceronianischen Fall mit einem Konjunktiv Perfekt bzw. Präsens in einem konsekutiven ut-Satz vor nicht allzu langer Zeit schon einmal diskutiert.

"tantopere ..., ut ... responderit": in konsekutiven Nebensätzen ist die Consecutio Temporum gelegentlich außer Kraft gesetzt. Das kommt bei Cicero (und anderen) öfters vor.

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Re: Frage zu einem Zeitverhältnis

Beitragvon Prudentius » Mi 23. Jul 2014, 09:59

Ich glaube eher, dass Cicero bei der Tempussetzung diesen 0-1-Schalter (Wahl der beiden Formen der CT) dazu einsetzt, um den Gedanken zu strukturieren, dass er also das responderit als dem commemoro untergeordnet und dem contempserit gleichgeordnet verstanden wissen will: "Was soll ich Sokrates erwähnen, wo doch ein namenloser Lakedämonier in seiner Todesverachtung diese Antwort gab...".

Was wir früher darüber diskutiert haben, weiß ich nicht mehr so genau, aber ich glaube kaum, dass Cicero diese Grammatikregel irgendwie als lästige Pflicht gesehen hat, über die er sich gelegentlich hinwegsetzte, dafür war ihm zu sehr das ordo-Denken eingefleischt, das war ja die Begabung der Römer .- oder ihr Spleen.

Ich glaube auch, die Frage "CT im Konsekutivsatz" ist im Grammatikbuch zu isoliert gestellt, man muss den Gesamtaufbau des Satzgefüges einbeziehen.
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Re: Frage zu einem Zeitverhältnis

Beitragvon Zythophilus » Fr 25. Jul 2014, 08:54

Es gibt die C.T. und es gibt einige konsekutive ut-Sätze, in denen sie nicht eingehalten wird. Um einen Fehler handelt es sich wohl nicht, aber auch psychologische Erklärungen, warum Cicero das an manchen Stellen macht, scheinen mir unpassend.
Wenn wir es nicht schaffen, Regelmäßigkeiten zu erkennen, wo und warum dieser außerhalb der C.T. stehende Perfektkonjunktiv vielleicht sogar gesetzt werden muss, bleibt uns nichts übrig, als dieses Phänomen wie bisher zu akzeptieren.
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Re: Frage zu einem Zeitverhältnis

Beitragvon RM » Fr 25. Jul 2014, 17:06

Zythophilus hat geschrieben:Wenn wir es nicht schaffen, Regelmäßigkeiten zu erkennen, ...

Warum sollten wir das eigentlich nicht schaffen? :-D

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Re: Frage zu einem Zeitverhältnis

Beitragvon Zythophilus » Fr 25. Jul 2014, 20:04

Wenn es die Regelmäßigkeiten gibt, wird man sie auch erkennen können. Vielleicht dachte sich der alte Arpinate aber auch immer wieder: "Jetzt nehme ich einmal zu Spaß den Perfektkonjunktiv. Die werden in 2000 Jahren noch rätseln."
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Re: Frage zu einem Zeitverhältnis

Beitragvon Prudentius » Sa 26. Jul 2014, 09:33

Es gibt die C.T. und es gibt einige konsekutive ut-Sätze, in denen sie nicht eingehalten wird.


Die Frage ist: wenn der Arpinate von der Norm abweicht, warum gerade bei den konsekutiven ut-Sätzen? Wenn ich in der Richtung weiterdenke, möchte ich so sagen: die CT ist überwiegend bei den "innerlich abhängigen" NS anzutreffen; sie bezeichnen eine Intention des Subjekts, bei den ut-Sätzen finale Adverbial- und -objektssätze; der Konsekutivsatz ist aber deutlich von ihnen unterschieden: er bezeichnet einen vom Subjekt unabhängigen Sachverhalt, der einer externen Gesetzlichkeit folgt; so besteht ein Differenzierungsbedarf, um ihn von den subjektiven Sätzen abzuheben; der Autor hat mit der CT einen 0-1-Schalter zur Verfügung, wie oben gesagt, oder eine Weichenstellung; er kann diese Möglichkeit einsetzen, um den konsekutiven Sinn zu markieren: er schaltet also die CT aus.
So könnte es zu erklären sein; es ist ein Versuch, das rationale Element einzubringen :nixweiss:
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Re: Frage zu einem Zeitverhältnis

Beitragvon RM » Sa 26. Jul 2014, 11:02

Prudentius hat geschrieben:wenn der Arpinate von der Norm abweicht

Zunächst: Cicero weicht von keiner Norm ab. Eine Norm gibt es nämlich für ihn noch nicht bzw. er ist die Norm.
Wir sollten jetzt beginnen, alle Beispiele zu sammeln, die uns in die Hände fallen - nicht nur von Cicero, um dann Gemeinsamkeiten zu suchen.

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Re: Frage zu einem Zeitverhältnis

Beitragvon RM » Sa 26. Jul 2014, 11:14

Ich habe jetzt gefunden, dass es auch bei Ciceros Bruder Quintus mindestens ein Beispiel für konsekutive Sätze ohne Beachtung der CT gibt:

sed tamen hoc mihi non praetermittendum videtur, quod primum ex eo iudicio tam egens discessit quam quidam iudices eius ante illud iudicium fuerunt, deinde tam invidiosus ut aliud in eum iudicium cottidie flagitetur.
QCic, Comm. Petitionis, 10, 20, [c]=Auson. Technop. 17(0)

Wir schließen daraus also, dass so etwas in der Familie Cicero nicht unüblich war. :)

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Re: Frage zu einem Zeitverhältnis

Beitragvon marcus03 » Sa 26. Jul 2014, 11:42

RM hat geschrieben:Wir schließen daraus also, dass so etwas in der Familie Cicero nicht unüblich war. :)


Ein Gendefekt ? :lol: :lol:

Schade, dass man an kein brauchbares Knochenmaterial rankommt. ;-)
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Re: Frage zu einem Zeitverhältnis

Beitragvon RM » Sa 26. Jul 2014, 12:29

marcus03 hat geschrieben:Ein Gendefekt ? :lol: :lol:

Nein! :D Die Mama ist schuld - so wie immer halt. Oder von wem hat Cicero Latein gelernt, von einem hübschen Au-Pair-Mädchen aus Rom?

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Re: Frage zu einem Zeitverhältnis

Beitragvon Zythophilus » Sa 26. Jul 2014, 12:40

Es ist eben die Frage, ob der ut-Satz ohne Beachtung der Zeitenfolge vererbt oder angelernt ist.
Im Ernst: Verwendet Quintus nicht im ut-Satz ein resultatives Perfekt, zu dem der Präsenskonjunktiv sehr wohl passt?
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Re: Frage zu einem Zeitverhältnis

Beitragvon RM » Sa 26. Jul 2014, 12:45

Zythophilus hat geschrieben:Verwendet Quintus nicht im ut-Satz ein resultatives Perfekt, zu dem der Präsenskonjunktiv sehr wohl passt?

Ich würde sagen: erst sammeln, dann analysieren. In der Zwischenzeit versuchen wir, dem guten Quintus zu erklären, was ein "resultatives Perfekt" ist. :wink:

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Re: Frage zu einem Zeitverhältnis

Beitragvon marcus03 » Sa 26. Jul 2014, 12:57

RM hat geschrieben:In der Zwischenzeit versuchen wir, dem guten Quintus zu erklären, was ein "resultatives Perfekt" ist. :wink:


... und bitten bei dieser Gelegenheit um eine Speichelprobe, um einen Gendefekt definitiv ausschließen . Wenn er den Begriff "result. Perfekt" hört, läuft ihm sicher das Wasser im Munde zusammen. :lol:
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