"Modalverben"

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"Modalverben"

Beitragvon Ioscius » Fr 24. Mai 2013, 20:51

Salvete!

hier folgt nochmal eine Frage zur Definition der "Modalverben" - in Anlehnung an Pinksters Buch über die lateinische Syntax und Semantik.

Pinkster meint, dass auch Sätze mit debere nach der Semantik unlogisch seien.
Ich finde diese These gewagt, da das Subjekt ja wirklich noch greifbar ist und diese Persön eben etwas machen muss und das steht im Infinitiv. Anders sieht es bei NcI's aus,

- wo wohl eine unpersönliche Konstruktion zur Analagoe der Verba iubendi steht (ludere prohibeor --> ludere Dicor/ videor (aus "wird gesehen" dann übtr. "scheinen" ),

- die "übertreibene" NcI-Konstruktion ("Porta intrari vetita est")

- die personale Konstruktion bei den sogenannten Modalverben, bei denen im Passiv das ehemalige Akk.Objekt des Infinitivs zum Subjekt wird.

Marcum vincere possum. Marcus (a me) vinci potest.
-> Da kann Markus wirklich nichts, also eher: licet Marcum laudare / laudari.

Bei NICHT-Modalverben geht das nicht:

Marcum vincere constituo. *Marcus vinci constituit.

bei solere, coepisse und desinere geht die persönliche Konstruktion im Gegensatz zum Deutschen. Heißt das, im Lateinsichen sind es Modalverben?

Marcum vincere coepi. Marcus vonci coepus est**. "Marcus wird angefangen besiegt zu werden" geht im Deutschen nicht. "Markus KANN besiegt werden" geht wie gesagt.

Mal sehen, was ihr so meint.. :)

Liebe Grüße

____

** Sogar mit Passiv-Assimilation in den Perfektstämmen.


Im Unklaren bleibt: Zeichnet auch diese übertriebene persönliche Konstruktion die "Modalverben" aus: Also das

http://cybergreek.uchicago.edu/cgi-bin/ ... :8:4:4.lss
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Re: "Modalverben"

Beitragvon Sokrates » Sa 25. Mai 2013, 10:33

salve, Iosci

dass Pinkster "debere" von "velle" unterscheidet, besonders semantisch, macht für mich Sinn, da, wenn man genau darüber nachdenkt, das Subjekt zwar das Agens vom Verb ist, also der Mann geht, aber der wahre Verursacher nicht genannt wird. Dass es ihn überhaupt gibt, wird dadurch unbestreitbar, dass das Subjekt unter Zwang handelt, also nicht selbst entscheidet, sondern nur ausführt.
In diesem Punkt es vielleicht eine entfernte Parallele zum Passiv gegeben, wie in Marcus vini potest.
In der Tat eine an sich "unmögliche" Konstrukion vom logischen Standpunkt her, aber da wir das im D genauso machen, wundert man sich nicht darüber, was es nicht besser macht... :D
Modalverben waren für mich immer Verben, die das Verb in besonderer Weise modifizieren, etwa um die Komponente der Möglichkeit, Fähigkeit, der Notwendigkeit.
Syntaktisch mögen coepisse etc. da durchaus reinpassen, aber semantisch sehe ich da wenig Gemeinsamkeit. Bei dicor etwa denkt man ja auch nicht an ein Modalverb.

Andere Ansichten?


vielen Dank für die schwierigen und interessanten Fragen, bin gespannt welche Hunde wir da noch wecken :sleep:

LG
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Re: "Der Tür ist es verboten,..."

Beitragvon Prudentius » Sa 25. Mai 2013, 19:09

"Porta intrari vetita est"


Das kommt mir falsch vor, das Subjekt des Passivsatzes ist ja das Objekt des aktiven, dann müsste es ja aktiv heißen: Wir haben der Tür verboten, betreten zu werden. Es heißt aber: wir haben verboten, die Tür zu betreten, Objekt ist also nicht die Tür, sondern das Betreten der Tür; dann müsste der Passivsatz also heißen: "Portam intrare vetitum est".
Der Lateiner sagte wohl eher: Domum intrare non licet".

P. :)
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Re: "Modalverben"

Beitragvon marcus03 » Sa 25. Mai 2013, 20:15

Prudentius hat geschrieben:wir haben verboten, die Tür zu betreten


Was sind das bloß für Leute, die Türe betreten? Die meisten treten eher durch solche ein oder treten schlimmstenfalls sie ein. :lol:
Das Ganze lässt mich ziemlich betreten dreischaun. :?
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Re: "Modalverben"

Beitragvon Ioscius » Sa 25. Mai 2013, 20:36

Mi optime Prudenti, mihi persuasum est te falli, quod ad eam rem attinet.

Lege quaeso BR § 489 (2) ! Immo vero non licet constructione abs te appellata uti (quod attinet ad verba iubendi, vetandi, prohibendi- licet - quod ad hanc elocutionem attinet - Romani praecipue usi sint verbo 'licendi' .

Quod ad alias verba iubendi attinet, dubito. Confer et Luci Iuni Moderati Columellae de re rustica librum XII: ficus ibi sinitur fermentari.
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Re: "Modalverben"

Beitragvon Sokrates » So 26. Mai 2013, 00:33

salvete,

ja, Ioscius hat recht, das ist das Schwierige an diesen semantisch schwer zugänglichen Gebilden. Zum einen ist vetare im L ja mit Akk., aber im D "verbieten" leider nicht. Solche "gewagten" NcIs oder andere Inf-Konstr. haben uns schon einmal sehr beschäftigt, siehe den entspr. Thread Verba iubendi...

LG
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Re: "Modalverben"

Beitragvon Ioscius » So 26. Mai 2013, 12:11

Tibi prorsus consentio, ὤ Σώκρατες.

Am ehesten kann man noch bei "prohibere" dem Deutschen aufgrund der Konstruktion mit Akkusativobjekt am nächsten kommen:

Te portam aperire prohibeo.

Ich hindere dich am "die-Tür-Öffnen".

Bei fehlender Angabe, wem etwas befohlen/ verboten / wer an etwas gehindert wird:
Latein wechselt zur NcI-Konstruktion, das griechische behält die Konstruktion des einfachen Infinitivs (im D auch mölich).

Prohibeo portam aperiri.

"Ich verhindere, die Tür zu öffnen" / Ich verhindere das Öffnen der Tür (im Deutschen dann Gen.obiec.)

Und der ganz "krasse Fall" ist dann im Deutschen nicht mehr nachvollziehbar, im Griechischen wird wohl eine 3. Person Plural ("κωλύουσιν")-Konstruktion erorferlich sein.

Porta aperiri vetita est / vetatur.


Wie gesagt, manchen mag es nerven, es mag beim allgemeinen Umgang mit dre lateinischen Sprache nicht sehr relevant sein, aber wie es Leute gibt, die sich gerne philsophisch mit ἀεὶ ὄντα / μεταξύ, dem Wesen des Eros beschäftigen, die Wissen wollen, ob alles was man sieht, wirklich existiert, so beschäfige ich mich gerne abstrakt mit grammatisch-theoretischen Fragen :)
Lg
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Re: "Modalverben"

Beitragvon Sokrates » So 26. Mai 2013, 12:35

salvete,

niemand muss sich genervt fühlen, es muss ja auch niemand solche Ausführungen lesen ;)

Gerade der letzte Punkt, dass im Gr. wohl die 3. P. Pl. Anwendung findet, das L aber anders denkt, ist meiner Meinung nach wirklich wichtig, da man sonst keiner der beiden Sprachen gerecht wird und sich -ob aus Unwissenheit oder Nachlässigkeit oder auch zu unterdrückenden muttersprachlichen Reflexen- für die falsche Konstruktion entscheidet!
Vielleicht noch zum Abschluss kann man erwähnen, dass es für den Römer sicher immer die gleiche "Denkart" war, die ihn (zumindest in der Klassik) dazu veranlasste, passive NcIs und dergleichen zu bilden, mit denen wir so unsere Probleme haben. Für ihn lag sicher kein großer Unterschied zwischen Sätzen mit prohibeo(r) und vetare oder auch sinere/sinor. Die "Unmöglichkeit" oder unlogische Semantik, die wir der einen Konstruktion unterstellen und die Selbstverständlichkeit, mit der wir andere annehmen und verstehen, sind für den Römer so sicher nicht fühlbar gewesen (nachdem sich diese Syntagmen erstmal etabliert hatten), sondern das "krasse" Momentum, das wir ersteren unterstellen, liegt einzig in der Aufbereitung und dem Vergleich mit dem D begründet.
Alles, was wir versuchen, ist, die Konstruktionen nachvollziehen lernen und uns immerzu an sie erinnern, damit man sie einsetzen kann.

Klingt verwirrend, aber ihr wisst doch , was ich meine... :lol:


LG
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Re: "Modalverben"

Beitragvon Prudentius » So 26. Mai 2013, 16:36

Bei fehlender Angabe, wem etwas befohlen/ verboten / wer an etwas gehindert wird:
Latein wechselt zur NcI-Konstruktion


Das muss nicht so sein, ich finde im Georges zwei Stellen mit bloßem Infinitv: ait esse vetitum accedere, Terenz; sanguinem arae offundere vetitum est, Tacitus, also wie ich es oben geschrieben habe.

Bei solchen Grammatik-Aussagen müsste man wissen, ob sie beschreibend, empfehlend oder normativ sind.

Porta aperiri vetita est / vetatur.


Dieses Beispiel ist mir unbehaglich, weil der Nom. des NCI zweideutig ist, er kann ja aus einem Akk. der Person oder aus einem der Sache im aktiven Satz hervorgehen, so dass die anstößige Übersetzung: "Der Tür ist verboten worden, geöffnet zu werden" ermöglicht wird.

so beschäfige ich mich gerne abstrakt mit grammatisch-theoretischen Fragen :)



Sehr gut, mache ich auch,

lgr. P. :)
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Re: "Modalverben"

Beitragvon Sokrates » Mo 27. Mai 2013, 09:05

salvete,

das ist ein guter Einwand, o care Prudenti!

Aber vgl. Kühner § 127, 12, besonders b!

Dort wird zum einen die Terenz-Stelle in ein anderes Licht gerückt, insofern es sich um einen NcI handelt, der aber als AcI formuliert ist (auch wenn man das formal natürlich nicht von unpers. vetitum est unterscheiden kann ;)).
In Fällen mit aktivem Infinitv, die Teil eines "uneigentlichen" AcIs waren, wie Consules iubentur scribere (bei iubeo consules scribere hat man ja quasi zwei Akk. Obj, wovon das Patiens dann im NcI zum Subj wird, ebenso wie in gewisser Weise auch der Infinitiv, sodass im Grunde diese Konstr. bloß ins Passiv gesetzt wird, wobei der Inf. nicht direkt zum Subst. dazugehört, sondern wohl eher noch, cf. § 126, Anfang, auf das iubeor bezogen ist) herrschte ja Konsens, und dann gibt es noch die Möglichkeit, aus einem "eigentlichen" AcI, wie der Autor es nennt, einen NcI zu formen, aus Amulius Romulum exponi iussit wird Romulus ab Amulio exponi iussus est. Hier könnte man auch einwenden, dass es eine Doppeldeutigkeit gebe, zum einen, weil, wie im Tür-Beispiel, das Subjekt sich als Patiens auf den passiven Infinitiv innerhalb des NcIs und auch auf die finite Verbform im persönlichen Passiv außerhalb der Nominalkonstruktion bezieht, zum anderen, weil sich ab Amulio als Urheber theoretisch auch auf exponi beziehen könnte, aber ja vom iussus est abhängt, wie aus dem ersten Satz deutlich wird. Trotz dieser komplizierten Bezüge hat die Konstruktion aber Verwendung gefunden! (Wenn auch selten, wie gesagt wird).
Im Beispiel ist das Prädiakt nunmal iubere und nicht vetare, aber beide Verben sollten ja offenbar gemeinsam in diesem Paragraphen abgehandelt werden, und dürften wohl Konstruktionsanaloga sein, jedenfalls wäre meines Erachtens vetor mit NcI also vetitum mit AcI vorzuziehen, wobei man letzteres sicher auch mal findet (vgl die zweite Stelle im Georges) und vielleicht mit § 127, 5, Anm. 2, a rechtfertigen kann?


Das sind meine Beobachtungen und Erklärungen, die aber natürlich keine Regeln oder Orientierung sein können! :nixweiss:

Wie ist deine Meinung, optime Prudenti?

LG
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Re: "Modalverben"

Beitragvon Ioscius » Mo 27. Mai 2013, 14:23

@ Prudentius: Dein Einwand leuchtet mir ein! Aber wo gibt es Beweise dafür, dass sich Römer und Griechen davor scheuten, zweideutige Konstruktionen zu bilden?
Ich habe das folgende Buch zwar leider gerade nicht zur Hand:
http://books.google.de/books/about/Stil ... edir_esc=y

Aber ich erinnere mich an einen Satz, in dem es um die Infinitivkonstruktionen geht, in dem ein bestimmtes Akkusativobjekt auf drei verschiedene Arten interpretiert werden kann: Einmal wird das Objekt zum Prädikat gezogen, zweimal zur Infinitivkonstruktion (im ersten Falle als Akk.Obj, in dem der Infinitiv im ersten Falle als Infinitivkonstruktion gesehen wird, im zweiten Falle wird es als Subjektsakk. gesehen).

Vergleiche bitte auch die Einleitung des BS. Es wird diskutiert, inwieweit Sätze wie
Te venire iubeo " , "Ich befehle Dir zu kommen" auch semantisch korrekt nach der AcI-0-8-15-Übersetzung "Ich befehle, dass du kommst" übersetzt werden kann - die Tendenz lautet nein, weil doch immer die Person direkt angesprochen wird. Die indirekte Vermittlung wird wohl eher mit "Iubeo te vocari" ausgedrückt.


Des Weiteren hat es sich um ein Missverständnis gehandelt: Ich redete natürlich nur von der elocutio Ciceriana vel Caesariana. Natürlich finden wir bei den verba iubendi auch unpersönliche Konstruktionen vor, gar ut-SÄtze usw...
Der von Tacitus verwendete Gebrauch des Wortes vetare in "cur Dialibus id vetitum" wird im Antibarbarus beispielsweise als "adjektivisch" bezeichnet - bei Cicero oder Caesar natürlich unmöglich.
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Re: "Modalverben"

Beitragvon Prudentius » Mo 27. Mai 2013, 19:13

Ich würde ja dieses Schild an die Hauswand hängen: "Intrare vetitum est", kann sein, dass ein Passant das e von intrare ausstreicht und ein i hinsetzt.

(1) Portam intrare vetitum est,
(2) Porta intrari vetita est.

Ich frage mich, woran es liegt, dass im L. eine Tendenz besteht, statt (1) lieber (2) zu gebrauchen, statt des erweiterten Inf. akt. einen NCI als Subjekt des Hauptprädikats zu setzen; denkbar wäre: das Passiv des Prädikats färbt ab auf das untergeordnete Verb, eine Art Passiv-Magnetismus; wenig wahrscheinlich.

Betrachten wir die Bindekräfte, die die Sätze zusammenhalten, das sind hier die Rektionen der beiden Verben; das Hauptverb hat als Passiv eine Nominativ-Rektion zum Subjekt hin, das untergeordnete Verb hat eine Akkusativ-Rektion zu seinem Objekt portam; (1) zerfällt also in zwei Rektionsfelder, unbefriedigend; das Hauptverb ist stärker, es zieht das Substantiv an sich heran, das tritt in den Nominativ und gibt das Genus an das Prädikat weiter, also porta ... vetita est; die Umwandlung von Obj. zu Subj. ist die Passivkonstruktion, also wird aus intrare intrari. So entsteht in (2) ein einheitlich aufgebauter Block, er hat etwas Kompaktes, ein einziger Kasus, außerdem G-Kongruenz vom Subj. zum Prädikat; unter diesem Gesichtspunkt verstehe ich, dass der Römer (2) bevorzugt.
Diese Vorliebe der Lateiner für kompakte Blöcke kann man auch sonst beobachten: "Durch die Gründung einer Stadt" könnte heißen: urbem condendo, zwei verschiedene Kasus, der Römer sagt lieber: "urbe condenda", einheitlicher Kasus, außerdem Kongruenzbindung; Blockbildung ist auch zu beobachten bei "quam ob rem" u.ä., das ist kompakter als "ob quam rem".

lgr P. :)
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Re: "Modalverben"

Beitragvon Ioscius » Mo 27. Mai 2013, 19:48

Wie gesagt, beim Gebrauch deutscher Modalverben ist es semantisch ja auch komisch, dass gesagt werden kann:

Die Tür kann geöffnet werden, anstelle: Es ist möglich / es kann sein, dass die Tür geöffnet wird. Dass Akkusativ-Objekt des Infinitivs wird zum Subjekt des finiten Verbs ("Subject-to-Object-Raising")
Die Tür an sich kann gar nichts.

Übrigens: Wie es bei den Verba iuebndi aussieht, wenn üebrhaupt kein Objekt da steht "intrare oder intrari vetitum est", frage mich nucht. Aber tendenziell ist bei unpersönlcihen Ausdrücken ja alles erlaubt:

Secundam elocutionem Cicerioanam oportet verbum utendi Ablativo construere / construi.
Licet dicere / dici.


Übrigens, Prudentius: Ich habe dir diesbezüglich vor einigen tagen eine PN geschrieben. Wird bei dir nicht eine ungelesene E-Mail anegzeigt?

Lg
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posse, iubere, vetare ...... Modalverben

Beitragvon Willimox » Di 28. Mai 2013, 13:21


Salvete!
..... cogitanti mihi et vetera repetenti
illa thesis mihi disputandi digna et probanda esse videtur.....


(0) Ansätze
(1) Modalverben
(2) Debeo ire - Pinkster
(3) Velle et posse
(4) iubere et vetare
(5) porta vetita

(6) Literatur


Bild

(0) Ansätze

Hier seien noch einmal einige Beispiele aus der laufenden, anregenden Diskussion
(Sokrates, Ioscius, Prudentius) aufgegriffen und beleuchtet, es geht um

das Transitivproblem und die Modalverben .

Damit einhergehend sei die These präsentiert, dass sich in der formalsyntaktischen Regel transitive Verben sind Verben, die im Aktiv ein Akkusativobjekt besitzen, das im Passiv zum Nominativsubjekt wird eine Standardregel findet, dass aber semantische Normen der Verträglichkeit und überhaupt Rollenmodelle der Valenz bei Umformungen keinesfall an Wichtigkeit verlieren. Ganz im Gegenteil: Die semantischen Konzepte sind stark und einflussreich. Sie interagieren mit syntaktischen Systemen in aufschlussreicher Weise.

(1) Modalverben

Was sind Modalverben? Es geht um solche Verben, die eine „neutrale“ Grundaussage wie z. B.„ich schlafe“ und ihren Sachverhaltsentwurf auf einem bestimmten Redehintergrund einordnen. Dabei sind sie semantisch stärker als die Hilfsverben (sein, scheinen, bleiben), semantische Leichtgewichte aber noch immer.

Das heißt, es geht um Verben wie „müssen, sollen, können“. Und natürlich um ihre mögliche und meist notwendige Ergänzung durch andere Verben, vorzüglich Vollverben im Infinitiv. Und zwar im Infinitiv Aktiv und im Infinitiv Passiv. Wobei diese Vollverben aufgrund ihrer Valenz bestimmte Ergänzungen oder Angaben ihres Feldes aktivieren können.

(2) Debeo ire - bei Pinkster

Debeo ire
Pinkster Lateinische Syntax und Semantik S. 206f.


Pinkster setzt bei debeo ein zweistelliges Verb an. Ähnlich wie bei oportet gehe es um eine verpflichtete, durch Normen verpflichtete Person und die ihr auferlegte Tätigkeit.
Allerdings: Anders als bei "ire volo" sei das Subjekt und Agens von ire syntaktisch aus diesem Verbund herausgenommen und als Subjekt im “Hauptprädikat“ integriert. Es gehe ja nicht um eine im Subjekt angelegte Relation, das Verpflichtetsein sei eben nicht im Subjekt angelegt.

Nun lässt sich einwenden:

Debere betont schon - vor der aktuellen Einbettung in Sätze - als Lexem bestimmte semantische Komponenten, etwa das Sem starker Anspruch und es lässt weitgehend offen, ob es sich dabei um einen Eigenanspruch oder einen Fremdanspruch/Fremdauftrag oder um beides handelt. Der Kontext setzt jeweils die entsprechenden Varianten, die aktuell gültig sind. Ein Satz wie „volo et debeo ire“ ist recht wohl möglich und sichert stützend die These von der Offenheit des Modalverbs, der Offenheit von "debeo" für Spezifikationen.

Wir brauchen also - nicht notwendigerweise, wie es Pinkster recht vorsichtig tut („ist es angemessener zusagen“) - jeweils syntaktisch und semantisch verschiedene Verbmodelle ansetzen. Und müssen dies dann auch nicht durch ein Hebungsverfahren abrunden. Es ist nicht nötig, das Modalverb als ein eigentlich intransitiv (sit venia verbo ;-) ) verwendetes Verb zu klassifizieren, in dessen ausgesparte Subjektposition dann das Subjekt/Agens der eingebetteten Phrase gehoben wird.

(3) Wollen und können

Ein kurzer Blick auf das Deutsche mag hier – für die These einer offenen und praktikablen Semantik und ihre Gültigkeit - aufschlussreich sein: Beim Stellenplan von „wollen“ werden personal-humane Subjekte/Füllungen sicher bevorzugt. Sicher deswegen, weil in unserem Weltverständnis eben Personen fast monopolartig mit Handlungen, mit Wünschen und Intentionen befasst sind. Überhaupt: Das Agens ist traditionellerweise aufgefasst als der typischerweise belebte Partizipant eines Vorgangs. Ein Partizipant, welcher absichtlich die vom Prädikat skizzierte Situation herbeiführt.

Trotzdem lassen sich Modalverben mit der semantischen Komponente "Absichtsträger" aus ihrem primären Feld weitertransportieren, etwa hier zu beobachten:
Diese Tür will und will nicht aufgehen.
Der Satz meint wohl nicht unbedingt metaphorisch, dass hier eine Tür sich willentlich und menschengleich dem Öffnen durch Menschen widersetzt. Vielmehr erweitern wir in einer Art Hochrechnung den modalen Deutungskontext und seinen Standardbereich:
Bei oftmaligem Versuch durch menschliche Akteure erweist sich die Tür als nicht im herkömmlichen Sinn nutzbar.

Man vergleiche entsprechend:
Gut Ding will Weile haben.
Oder:
Auch Faulenzen will gelernt sein.


Und Pinksters Beleg für eine mögliche Raising-Analyse zur Klärung von
cum haec scribebam… Pompeius iam Brundisium venisse poterat; Atticus 8,9
ist nicht unbedingt zwingend. Die epistemisch-conclusive Lesart von posse lässt sich eben durch ein entsprechendes semantisches Konzept erfassen, das wir intuitiv anwenden:
Bezogen auf Pompeius konnte von uns gefolgert werden, dass ….

Ähnliche semantische Interpretationen sind wohl auch sonst bei „posse“ möglich:

Ein Satz wie „porta aperiri potest“ impliziert nicht notwendig, dass es sich hier um das (menschliche) Vermögen eines unbelebten Gegenstandes handelt, um die Disposition und das Vermögen dieses Gegenstandes, dass er sich selber öffnen kann oder dass er geöffnet werden kann.

Vielmehr setzen wir beim Verstehen wohl einen latenten Bedeutungsrahmen an, den der Sprecher mitsignalisieren oder voraussetzen dürfte. Und in diesem geht es um eine aus empirisch beobachtbaren Handlungen im Umgang mit der Tür zu folgernden Sachverhalt:

Porta aperiri potest formuliert fazitartig und verkürzt, was Sache ist.

(4) Iubere und vetare

Wie sieht es bei iubere (oder vetare) aus?
Ein kurzer Blick auf BSs Beispiel § 489,2:

is [Romulus] igitur, ut natus sit,
cum Remo fratre
dicitur
ab Amulio, rege Albano, ob labefactandi regni timorem ad Tiberim exponi iussus esse;
de re publica 2,4


Die Besonderheit von iubere ist hier die Kongruenz mit is (Romulus): Es handelt sich um den kleinen Romulus, ein unmündiges Kind, zweifellos nicht fähig einen Befehl auszuführen, was ja aber im Konzept von iubere aliquem vorausgesetzt wird.

Ein Widerspruch. Widersprüchlich noch dazu, weil es hier das Passiv exponi gibt, das erst recht alle Agensqualität und die Kontrollfähigkeit von Romulus absorbiert, nein zerstört. Das Subjekt Romulus ist in jeder Hinsicht Patiens und Opfer einer Handlung außerhalb seines „Machtbereichs“.

Zweifellos wären wir zufriedener :wink: , wäre hier ein iussum est zu verzeichnen oder ein servus quidam iussus est, ut (sic!) Romulus ad Tiberim exponeretur/ut Romulum ... exponeret (oder AcI oder rex ministrum iussit oder …).

Allerdings lässt sich auch hier ein mental selbständig funktionierendes Rezept, ein mentaler Dechiffriermechanismus, beobachten. Wir interpolieren beim Lesen wohl unterbewusst, es gebe/gibt da im gegebenen historischen Sachverhalt ein implizites, latentes Agens als Befehlsempfänger, also Rezipient oder Patiens, das eben nicht Romulus ist.

Dabei erweitern wir die Grundbedeutung von iubere und bleichen sie aus. Die Standard-Vokabel „jemandem etwas befehlen/jemanden mit etwas beauftragen, das in seiner Handlungsmöglichkeit liegt“ erhält die Variante „ jemanden oder etwas mit einem Befehl belegen, der an ihm auszuführen“ ist. So rückt dann das Patiens einer Verbhandlung als Zielobjekt ein und wird in der Passivformulierung Subjekt: Romulus wurde mit dem Befehl belegt, ausgesetzt zu werden. Das Passivagens, der das Aussetzen ausführende und kontrollierende Rollenträger, ist damit ausgeklammert - was das Passiv ja geradezu auszeichnet. Und der Satz ist bei aller al-fresco-Manier und allen Leerstellen recht gut verständlich.

(5) porta vetita

Ein Übergang von einem belebten, aber kontrollunfähigen Lebewesen (Baby Romulus) zu einem unbelebten und qua ontischem Status nicht kontrollfähigen Ding wie Tür mag dann durchaus im Rahmen sprachlicher Möglichkeiten liegen.

So wie es einem Simonides beschieden war, nicht segeln zu dürfen, mag es einer Tür beschieden sein, nicht geöffnet zu werden und nicht geöffnet werden zu dürfen.

Sicut aperte Simonides vetitus est navigare.
div II 134

porta aperiri vetita est


Zumindest könnte man mit und gegen Pinkster die These verfechten: Raising-Konstruktionen generieren vielleicht Erweiterungen in der Grundbedeutung eines Lexems. Mindestens ebenso wahrscheinlich: Grundbedeutungen sind bereits im Lexikon in vielen Modifikationen und Rollenmodellen abgespeichert und variiert.

Die Syntax mag oder mag nicht :chefren: im Einzelfall auf diesen Pool zurückgreifen, eine wahre Schatztruhe semantischer Patterns, Kleinode eben, sie steht offen zur Verfügung.

(6) Literatur:

raising
http://en.wikipedia.org/wiki/Raising_(linguistics)

Transitivität
http://tinyurl.com/qjpuxfd

Empfehlenswert kompakt

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Re: "Modalverben"

Beitragvon Ioscius » Do 30. Mai 2013, 21:13

Klasse Beitrag, Willimox, im Prinzip habe ich fast auf eine derartige wissenschaftliche Auseinanderstezung, wie du sie bei vielen Theman zu machen pflegst, gewartet. Ich bin überzeugt - du hast ja mal gesagt, du seist Lehrer - dass deine Kollegen dein breit gefächertes Wissen und Deine "Forschung" sehr schätzen!

Wenn ich die Kernaussage Deines Posts richtig verstanden habe, dann hat sich die Bedeutung der Verbs einfach erweitert/ verändert, sodass die Konstruktionen logisch erscheinen (wie sich ja wohl auch die epistemische Lesart von Modalverben entwickelt hat. Normalerweise kennt man derartige Begriffe nicht nicht. Du musst Dich freizeitlich auch sehr viel mit solchen Dingen beschäftigen. .)

Wird man hingegen schon bei aktivischem Prädikat z.B Portam aperiri veto diese erweiterte Bedeutung anwenden - "Ich befehle der Tür, geöffnet zu werden"- dann ergibt natürlich auch der NcI bezüglich seiner syntaktischen Konstruktion, einen SInn: Porta aperiri vetita est.

Aber dann passen meiner Meinung nach diese Fragestellunegn der Konstruktion bei den Modalverben, auch bei den Verba iubendi gut zusammen..

Ich werde mir übrigens die Aufsätze von Bolkestein über Infinitive und ut-Sätze durchlesen (alle in der Biographie von Pinkster angegeben, s. http://cybergreek.uchicago.edu/cgi-bin/ ... c.0:16.lss ).



Bolkestein, A. Machtelt

(1976a) `The relation between form and meaning of Latin subordinate clauses governed by verba dicendi', Mnemosyne 29, 155 175; 268 300

(1976b) `AcI and ut clauses with verba dicendi in Latin', Glotta 54, 263 91

(1977b) `The difference between free and obligatory ut clauses', Glotta 55, 321 50

(1979) `Subject to Object Raising in Latin', Lingua 47, 15 34

(1981a) `Embedded predications, displacement and pseudo argument formation in Latin', in: Bolkestein, A. Machtelt e.a. (1981), 63 112


(1983b) `The role of discourse in syntax: Evidence from the Latin Nominativus cum Infinitivo', in: Ehlich, Konrad & Henk van Riemsdijk (eds.), Connectivity in Discourse and Syntax, Tilburg, University Press, 111 40

Insbesondere für dieses Thema eignet sich natülrich dieses Buch von Bolkestein:

(1980a) Problems in the Description of Modal Verbs. An Investigation of Latin, Assen, van Gorcum

Diesse Dissertation habe ich auch vor zu lesen..


http://dissertations.ub.rug.nl/FILES/fa ... thesis.pdf


Liebe Grüße :D
Ioscius
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