Umwertung von Worten

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Umwertung von Worten

Beitragvon Brakbekl » So 9. Okt 2011, 11:00

Ich möchte noch mal auf folgendes Video aufmerksam machen: http://www.youtube.com/watch?v=iLz7Ui3y5hg

Mich interessiert dabei die Umwertung vom Begriffen. Prof. Hohberg geht hier nur kurz auf die Klangänderung von schwul ein. An die Lateinprofis die Frage: Sind solche Umwertungs-Prozesse, die es sicherlich gab, auch aus der alten Historie bekannt und dokumentiert? Bruchstellen, an denen dies möglich wäre, gab es ja, ich denke erstens an die Öffnung Roms nach der Eroberung Griechenlands und zweitens an den Prozess, der meistens mit "Übernahme des Christentums als Staatsreligion" oder so ähnlich "Konstantinische Wende" betitelt wird. Vielleicht sagt Consus oder Tiberis mal was dazu.

Interessant wäre die Frage, ob das sprachliche Phänomen nur der Nachvollzug einer durch historische Geschehnisse bewirkten Bewußtseinsänderung ist, mithin also sekundärer Natur, oder ob er gar, wie bei schwul etwa, als primäres Geschehen anzusehen ist.
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Re: Umwertung von Worten

Beitragvon philistion » Sa 15. Okt 2011, 21:03

Interessante Frage, schade dass noch keiner was geschrieben hat.

Das was du beschrieben hast mit dem Begriff "schwul", lässt sich auch als Dysphemismus-Tretmühle auffassen, analog zur Euphemismus-Tretmühle, die immer wieder von Politikern aller Couleur demonstriert wird. Bsp: Krüppel → Invalide → Behinderter → Mensch mit Behinderung.

Gab es das in der Antike auch? Also dass Politiker neue Begriffe erfunden haben, weil die alten mit der Zeit negativ konnotiert waren?

Oder ist das vielleicht doch ein modernes Phänomen unserer Mediengesellschaft?

Auch ein gutes Beispiel: "Sondervermögen des Bundes" ;)
Zuletzt geändert von philistion am So 16. Okt 2011, 15:29, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Umwertung von Worten

Beitragvon Brakbekl » So 16. Okt 2011, 07:54

philistion hat geschrieben:Gab es das in der Antike auch? Also das Politiker neue Begriffe erfunden haben, weil die alten mit der Zeit negativ konnotiert waren?


Ich habe so eine Ahnung, daß der Begriff Evangelium schon vor der Geburt des Erlösers politisch geschaffen und genutzt wurde. Auf jeden Fall ist er vorchristlichen Unsprungs. Irgendwie schwebt mir das Monumentum Ancyranum vor Augen, kann das aber momentan nicht verifizieren...
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Re: Umwertung von Worten

Beitragvon Zythophilus » So 16. Okt 2011, 16:27

Euphemismen hatten die Römer natürlich, aber solche immer weiter verharmlosende Wortbildungen, die das Ziel haben, die Genannten nicht zu kränken, fallen mir keine ein. Für eine Zeit, in der man sich am liebsten an Gladiatornspielen ergötzte, ist auch nicht viel an Sensibilität dieser Art zu erwarten.
Ein treffendes Beispiel für die Umwertung von Worten ist sicher rex, das im Hinblick auf die etrusk. Könige normalerweise so viel wie "Tyrann" heißt, obwohl die Etymologie keinen Anlass dazu gibt. Im Mittelalter hat dieses Wort freilich wieder seine neutrale Bedeutung.
Das erwähnte "schwul" hat bei den Römern ein Pedant: cinaedus kann die normale Bezeichnung aber auch ein Schimpfwort für einen Homosexuellen sein. Als Schimpfwort kann es außerdem auch für Leute dienen, die gar nicht homosexuell sind.
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Re: Umwertung von Worten

Beitragvon Zythophilus » So 16. Okt 2011, 17:46

Das Christentum, dessen Sprache ursprünglich ja nicht Latein ist, hat natürlich einen besonderen Bedarf an Wörtern, die nicht nur Neubildungen sein können. Viele bestehende Wörter erhalten daher eine zusätzliche Bedeutung, die zunächst aber wohl nur den Christen selber bekannt ist, wie e.g. sacramentum. Ein Missverständnis eines solchen Wortes durch einen Außenstehenden findet sich im berühmten Christenbrief (X 96,8), wo Plinius sagt ex duabus ancillis, quae ministrae dicebantur - den schon gebräuchlichen Titel ministra bzw. wahrscheinlicher dessen griech. Entsprechung διᾱκονος kennt er als solchen offensichtlich nicht.
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Re: Umwertung von Worten

Beitragvon Brakbekl » So 16. Okt 2011, 22:10

Zythophilus hat geschrieben:Das Christentum, dessen Sprache ursprünglich ja nicht Latein ist, hat natürlich einen besonderen Bedarf an Wörtern, die nicht nur Neubildungen sein können. Viele bestehende Wörter erhalten daher eine zusätzliche Bedeutung, die zunächst aber wohl nur den Christen selber bekannt ist, wie e.g. sacramentum. Ein Missverständnis eines solchen Wortes durch einen Außenstehenden findet sich im berühmten Christenbrief (X 96,8), wo Plinius sagt ex duabus ancillis, quae ministrae dicebantur - den schon gebräuchlichen Titel ministra bzw. wahrscheinlicher dessen griech. Entsprechung διᾱκονος kennt er als solchen offensichtlich nicht.



Eine Wortbildung der ersten Christen, bzw. des Gründers des Christentums ist mir nicht bekannt. Daß das frühe Christentum theorielastig sei, kann man nicht behaupten.
Aber verwechseln wir nicht Umwertung wegen Bedeutungswandel mit Umwertung bei Bedeutungsgleichheit.
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Re: Umwertung von Worten

Beitragvon Zythophilus » So 16. Okt 2011, 22:48

Die These mag zwar übertrieben worden sein, aber prinzipiell gibt's m.E. durchaus etwas wie eine "christliche Sondersprache". Dazu gehören auch eigens geprägte Begriffe, die anderswo nicht verwendet werden, man denke nur an die aus dem Griechischen entlehnten Wörter wie baptizare oder catechumenus, mit denen ein Römer, der nichts vom Christentum wusste, nichts anfangen konnte.
Ein Beispiel für ein ursprünglich abschätziges Wort, das später von den so bezeichneten als positiv gesehen wurde, ist sicher νεώτεροι, das von Cicero als Kritik gemeint war.
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Re: Umwertung von Worten

Beitragvon Brakbekl » Mo 17. Okt 2011, 09:14

Zythophilus hat geschrieben:Die These mag zwar übertrieben worden sein, aber prinzipiell gibt's m.E. durchaus etwas wie eine "christliche Sondersprache".


Durchaus, in den Zeiten aber nach Christus. Wir kennen doch keinen Begriff, noch eine Sache, die Christus in seinem Leben geschaffen, und der er einen Begriff gewidmet hat. Die oft zitierte Taufe war ein Ritualbad, welches dem jüd. Kultus entnommen, wie alles, und hatte schon im aram. eine eigene Bezeichnung vor ihm. Er hat ja in seinem Leben nichts Neues gebracht. Das einzig Neue, was er brachte, geschah mit seinem Tode.....
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Re: Umwertung von Worten

Beitragvon Zythophilus » Mo 17. Okt 2011, 16:08

Ob Christus während seiner irdischen Zeit im Aramäischen sprachschöpferisch tätig war oder nicht, weiß ich nicht. Belege dafür gibt es jedenfalls nicht. Eine christliche Sondersprache, zumal im lateinischen Bereich, kann sich logischerweise nicht vor Christus entwickelt haben. Hier ist zu klären, ob auch genuin lateinische Wörter neu gebildet wurden oder bei solchen lediglich eine neue Bedeutung dazu kam. Plinius erkennt an der o.g. Stelle ja nicht, dass ministra im Zusammenhang keineswegs eine einfache Dienerin ist, sondern ein Titel einer Leitungs- bzw. Priesterfunktion.
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