Vernunft

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Vernunft

Beitragvon Brakbekl » Do 27. Jan 2011, 09:46

Wir reden ja immer von ratio, welches die Vorlage unserer Vernunft sei. Es besteht aber ein gewisser bildlicher Hiatus, der Zweifel an der direkten Herkunft der deutschen Vernunft aus der lateinischen Ratio nährt.

ratio geht auf reor - Rechnen kann jeder, ohne das Beitun eines anderen, so er es vermag, bei sich selbst. In Vernunft aber hören wir noch ein vernehmen. Die Vernunft scheint also eine Art inneres Gehör zu sein. Wahrscheinlich nahm man es in christlichen Zeiten als Ohr vocis dei. (Lückenbüßer-Funktion) Weiß jemand ob es im christlichen Latein eventuelle eine andere Vorlage für dies Wort gab?

Danke
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Re: Vernunft

Beitragvon Brakbekl » Do 27. Jan 2011, 13:14

Longipes hat geschrieben:Vielleicht hilft dir das hier weiter:


Vielen Dank Langfuß, leider nur bedingt.....

Ich gehe davon aus, daß Wörter Bilder sind, und das Bild von Vernunft verlangt neben dem dir. Objekt ein wie auch immer geartetes Gegenüber, ein indirektes Objekt, wohingegen die lat. ratio nur mit dem Akk. Objekte steht - siehe Georges. Es steht also die Frage, ob die dt. Bildung "Vernunft" direkt in Anlehnung an das lat. "ratio" gebildet wurde, oder eventuell etwas anderes ins Auge zu fassen ist, oder es eine genuin dt. Bildung ist.

Es ist also ein Bruch in der eventuellen Übernahme von ratio in der Bedeutung "Rechnung, Urteil", wo das Ich aktiv ist, während es bei der Vernunft ja passiv ist, denn es vernimmt etwas von jemandem. Die heutige Bedeutung von Vernunft soll schon im Ahd. bei Notker vorliegen. E. WB. d. dt. Sp. Akad. Berlin 1988 s. S. 1899

Während das lat. "reor" eine Einflußnahme einer höheren Instanz außerhalb des Individuums ausschließt, scheint dies bei der dt. Vernunft nicht zu sein. Die Frage stellt sich also, ob die Vernunft nicht unter dem Einfluß des christlichen Gottes geprägt wurde.
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Re: Vernunft

Beitragvon krambambuli » Do 27. Jan 2011, 14:31

Interessantes Thema!

meines Erachtens liegt es daran, dass "ratio" ein philosophischer Begriff ist, der - je nach philosophischer Schule - umgedeutet wird.

Selbstverständlich ist die europäische Philosophie stark - ob gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst - vom Christentum beeinflusst.


Aber selbst der lateinische Begriff "ratio" ist schon eine Übersetzung des griechischen philosophischen "logos", der je nachdem, welche Philosophenschule, anders definiert wird.
http://www.textlog.de/4374.html

Im Christentum wird "logos" mit Gott gleichgesetzt. (Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott - Anfang des Johannesevangeliums)


Während das lat. "reor" eine Einflußnahme einer höheren Instanz außerhalb des Individuums ausschließt, scheint dies bei der dt. Vernunft nicht zu sein. Die Frage stellt sich also, ob die Vernunft nicht unter dem Einfluß des christlichen Gottes geprägt wurde.

wenn ich Cicero in natura deorum richtig verstanden hab, dann schließen sich ratio und das Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen für den Stoiker nicht aus. http://www.textlog.de/4787.html
Die Einflußnahme einer höheren Instanz bestreiten dagegen die Epikureer, die sich Götter "außerhalb der Welt" vorstellen. (Jetzt sehr grob und seeeeeehr plakativ dargestellt)


Die Gleichsetzung von "ratio" mit "Vernunft" ist meines Wissens erst in der Aufklärung entstanden
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Re: Vernunft

Beitragvon Brakbekl » Do 27. Jan 2011, 14:46

Bitte auf das Thema konzentrieren. Es geht nicht um philosophische Entwicklungen des Vernunftbegriffes einzelner Denker.

Es geht um die Beobachtung der Übernahme eine Begriffes von einer Sprache in die andere. Also unser Spiegelei ist von den Ungarn wortwörtlich übernommen worden, indem Tükörtojás sich zusammensetzt uns tükör (Spiegel) und tojás (Ei). Das bedeutet, daß die Ungarn auch bei der glänzenden Oberfläche des Objektes einen Spiegel assoziieren.

Es fragt sich jetzt, ob die Deutschen, wenn sie den Gedanken der Vernunft wirklich vom lat. ratio übernommen hätten, nicht einen anderen Begriff hätten wählen müssen, und zwar den, der einen Einfluß eines Dritten auf die geführte Überlegung ausschließt, wie z.b. Rechnung. Der deutsche Begriff "Vernunft" suggeriert unausgesprochen einen gegenwärtigen unbenannten Dritten, der Einfluß nimmt. Dies tut der Begriff "Ratio" im Lateinischen nicht!

So ist es nicht von ungefähr, das wir im Deutschen den Begriff "autonome Vernunft" haben prägen müssen, um die suggestive Einflußnahme eines Dritten auszuschließen, und dies ist es doch, was "ratio" meint, eine Überlegung, einen Schluß allein aufgrund vorhandenen Wissens und nicht aufgrund unverifizerbarer Einflüsterungen ominöser Dritter.
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Re: Vernunft

Beitragvon krambambuli » Do 27. Jan 2011, 14:54

ja, aber das kannst du doch nicht trennen!!!

die Übertragung und Übersetzung der Begriffe ist doch grade durch die o.g. Philosophen erfolgt.
Cicero hat griechische Philosophie ins lateinische übertragen und erst die entsprechenden lateinischen Begriffe geprägt, z.B. in den Tusculanen.


Der heutige Sprachgebrauch, der ratio mit Vernunft gleichsetzt, beruht auf den Definitionen der Philosophen der Aufklärung, die sich grade die Klassiker des Altertums und deren Philosophie beschäftigt haben.

Man kann solche Sprachentwicklungen sicherlich kritisieren, vll. ist die Übertragung tatsächlich philologisch zu schlampig gewesen.. ich verstehe nicht ganz, worauf du mit deine Überlegungen hinauswillst.

Außerdem sind es nicht nur die Deutschen, die sich da um die "Begriffsverunstaltung" bemüht haben, sondern auch die Engländer wie Locke und Hume ;)

P.S.
selbst die alten Griechen und Lateiner haben ihren (Allgemein) Begriffen erläuternde Begriffe zur Seite gestellt, um Unterscheidungen zu treffen
http://www.textlog.de/4787.html


P.P.S.
Selbstverständlich ist "Vernunft" nicht etwas, das losgelöst vom Himmel fällt ;)
Neueste Hirnforschungen haben ergeben, dass der "ominöse Dritte", der IMMER mitentscheidet, ob man(n) es nun wahrhaben will, oder nicht, das GEFÜHL ist :D



es gibt im Griechischen nous und logos, die sich von der Bedeutung überschneiden.
Christliche Theologie ist auch zum großen Teil von griechischer, (bes. neuplatonischer Philosophie) geprägt.

im Deutschen gibt es lt. Duden eine Wandlung der Begriffsbedeutung von "vernehmen" zu "Geisteskraft", wie schon weiter oben geschrieben, wäre die eigentlich richtige lateinische Entsprechung intellegere. (selbst legere hat nen Bedeutungswandel hinter sich: vom "auslesen" zu "Buch lesen" ;).


intelligentia
intellectus
und ratio

müßtest du allein schon im Lateinischen voneinander abgrenzen und definieren.


"ratio" ist im Englischen AUCH n Zahlenverhältnis, also noch dicht an Rechnung dran.


Was du richtigerweise festgestellt hast, sind in verschiedenen Ländern Denkmuster unterschiedlich und das schlägt sich halt auch in der Sprache nieder. Das kann man lediglich zur Kenntnis nehmen, man muß doch aber jetzt nicht gezwungenermaßen Begrifflichkeiten finden, die sich in ihrem URSPRUNG entsprechen, sondern es braucht halt Synonyme in der VERWENDUNG der Worte.
- oder man belässt es bei dem fremdländischen Begriff und übersetzt ihn halt nicht, damit das Besondere vorgehoben bleibt.
Ich käme auch NIE auf die Idee 'virtus' mit 'Tugend' in einem Text zu übersetzen. ;)

"Kategorie" - katagorein - wurde von Aristoteles "erfunden", für den Begriff der Einteilung in Klassen heißt wörtlich "hinauf zum Forum (gehen)" -- dann aber schon in der Verwendung "anklagen"

vielleicht hat Cicero deshalb den Begriff "ratio" verwandt, weil er die Fähigkeit zur Unterscheidung... zum "ins Verhältnis setzen" beinhaltet (Schließlich bilden Kategorien ja auch Strukturen ab). Das ist schon mehr als das bloße "Erkennen".
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Re: Vernunft

Beitragvon Brakbekl » Do 27. Jan 2011, 16:46

krambambuli hat geschrieben:ja, aber das kannst du doch nicht trennen!!! ... die Übertragung und Übersetzung der Begriffe ist doch grade durch die o.g. Philosophen erfolgt.
Cicero hat griechische Philosophie ins lateinische übertragen und erst die entsprechenden lateinischen Begriffe geprägt, z.B. in den Tusculanen.


Die Prägung des dt. Begriffes fällt in eine Zeit an einen Ort, durch eine Person. Dies gilt es einzukreisen.

Ob Oboedientia - zu audire - eine Rolle gespielt hat? Dann wäre der Gehorsame vernünftig.
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Re: Vernunft

Beitragvon krambambuli » Do 27. Jan 2011, 16:55

wenn ich mir die autoritäre deutsche Geschichte so anschaue, wär das durchaus naheliegend ;) :lol:

nette Sentenz... ;)

Ich denke einfach, dass hier dier Fokus in beiden Wörtern auf der sinnlichen Wahrnehmung liegt.


vernunft, von vernehmen ist natürlich schon die Art, wie man lernt.

da gehören natürlich auch deutsche Begriffe rein ... wie be-greifen, er-fassen

Lateiner und Griechen scheint nicht der Vorgang des Lernens, der Ausbildung des Geistes in diesem Zusammenhang interessiert zu haben, sondern eher der Vorgang, was man mit dem Gelernten anfängt, also liegt der Fokus der Wortgenese eher auf der Nutzanwendung :)


wohingegen Gotteserkenntnis dann schon mit Begriffen wie "deum intellegere" verknüpft wird.
Zuletzt geändert von krambambuli am Do 27. Jan 2011, 17:00, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Vernunft

Beitragvon Brakbekl » Do 27. Jan 2011, 16:59

krambambuli hat geschrieben:Lateiner und Griechen scheint nicht der Vorgang des Lernens, der Ausbildung des Geistes in diesem Zusammenhang interessiert zu haben, sondern eher der Vorgang, was man mit dem Gelernten anfängt, also liegt der Fokus der Wortgenese eher auf der Nutzanwendung :)


welche Begriffe meinst du?

M. E. geht unserem "begreifen" ein lat. capere voran. d. h. ersteres ist direkt nach letzterem gebildet worden.
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Re: Vernunft

Beitragvon krambambuli » Do 27. Jan 2011, 17:03

ob das eine aus dem anderen entstanden ist, weiß ich nicht, es bezeichnet halt die Entstehung menschlichen Lernens.

wir haben ja auch im Deutschen die Entsprechung der unterschiedlichen Bedeutung für "lesen"

aber wo ist die Entsprechung (in der Wortbildung ) für "inter- legere" ? Diese Art des Denkens scheint uns fremd, daher kein Begriff.



P.S.
In welchem Zusammenhang bist du eigentlich auf diese spannende Fragestellung verfallen?
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Re: Vernunft

Beitragvon Brakbekl » Do 27. Jan 2011, 17:06

krambambuli hat geschrieben:wohingegen Gotteserkenntnis dann schon mit Begriffen wie "deum intellegere" verknüpft wird.


intellegere habe ich immer mit "zwischen (den Zeilen) lesen" verstanden. Wobei mir der Vorgang an sich das Rätselhafteste ist, was es auf Erden gibt, d. h. wie sich zwei Menschen verstehen können. Und nun erst einen Gott verstehen. mir ist einen Gott pflegen schon rätselhaft..... aber das gehört nicht in diesen Thraed.
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Re: Vernunft

Beitragvon Brakbekl » Do 27. Jan 2011, 17:07

krambambuli hat geschrieben:ob das eine aus dem anderen entstanden ist,


welche Begriffe meinst Du - discere und docere? :help:
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Re: Vernunft

Beitragvon krambambuli » Do 27. Jan 2011, 17:12

ja klar, aber allein bei diesem Begriff siehst du doch schon, dass wir hier kein reines Verb bilden würden, sondern den Ausdruck immer explizit nur mit Objekt bilden bzw. verstehen würden ....: "zwischenlesen" gübbet halt nich ;)


und aus genau denselben Zweifeln wir du sie hast, hat man sich wahrscheinlich in der Zeit der Aufklärung auf "ratio" als Terminus Technicus besonnen, um damit einen Gegenpol - auch begrifflich - zu "deum intellegere" zu haben, könnte ich mir vorstellen.

Die Übersetzung mit "Vernunft" ist dann der nächste Schritt seitens der deutschen Philosophen gewesen.
War Kant derjenige, welcher? Das weiß ich nicht genau....


Wenn du z.B. Schopenhauer liest und nicht weißt, welche ursprünglichen Begriffe eigentlich dahinter stehen, kann man auch schon schnell mal ins Schleudern geraten...
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Re: Vernunft

Beitragvon krambambuli » Do 27. Jan 2011, 17:17

brakbekl hat geschrieben:
krambambuli hat geschrieben:ob das eine aus dem anderen entstanden ist,


welche Begriffe meinst Du - discere und docere? :help:



ratio -- ist ne fertige Fähigkeit, da hat der Erwerb der Fähigkeit keinerlei Bedeutung
ebenso bei Intelllegere


Vernunft .. impliziert die geistige Ausbildung durch HÖREN


capere --- wär dagegen genaus entstanden wie bei uns, nämlich be-greifen, er-fassen

wobei ich meine, mehr die wortwörtliche Bedeutung gelesen zu haben, als die übertragene (kann natürlich auch an der Auswahl meiner Lektüre liegen ;) )
Zuletzt geändert von krambambuli am Do 27. Jan 2011, 17:20, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Vernunft

Beitragvon Brakbekl » Do 27. Jan 2011, 17:19

krambambuli hat geschrieben:.: "zwischenlesen" gübbet halt nich ;)

Ich versteh Dein Deutsch nicht. Meinst Du mit "gübbet halt nich" "gibt es nicht."?
als Terminus Technicus besonnen, um damit einen Gegenpol - auch begrifflich - zu "deum intellegere" zu haben, könnte ich mir vorstellen.
Das ließe sich nachweisen, allerdings ist Vernunft viel älter - Notker. Schau mal bei Grimm


Erklär nochmal, was Du mit discere und docere meinst....
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Re: Vernunft

Beitragvon Brakbekl » Do 27. Jan 2011, 17:24

krambambuli hat geschrieben:[
ratio -- ist ne fertige Fähigkeit, da hat der Erwerb der Fähigkeit keinerlei Bedeutung
ebenso bei Intellegere
Vernunft .. impliziert die geistige Ausbildung durch HÖREN


Kann man so sehen, muß man aber nicht. Mal angenommen Vernunft ist das Ergebnis von Gehorsam auf Seiten des Gehorsamen, so müßte jeder Gehorsame vernünftig sein. Wenn wir mal davon absehen, daß der Gehorsam von interessierter Seite in Verruf gebracht worden ist, bestände so ein erklärter Zusammenhang.
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