Goyas Genitiv

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Goyas Genitiv

Beitragvon Brakbekl » Mi 5. Jan 2011, 18:27

Hallo,

bekannt ist Goyas Motto "El sueño de la razón produce monstruos" einer Zeichnung. Ich möchte auf den Genitiv eingehen, und zwar unabhängig davon, ob man nun sueño mit Schlaf oder Traum übersetzt.

Der Schlaf (Traum) der Vernunft gebiert Ungeheuer!
Diese Übersetzung kann gedeutet werden

1. Wenn die Vernunft schläft, kommen die Ungeheuer zur Welt (Vernunft positiv vorgestellt)
2. Die Vernunft selbst ist ein Traum, ein Schlafzustand des Menschen, und produziert Ungeheuer. (Vernunft kritisch betrachtet)

Frage: Was sind das für Genitive?
1. ein Gen. objektivus? (der Schlaf in bezug auf die Vernunft)
2. Das ist kein Gen. subjektivus! Warum nicht? Weil hier der Schlaf nicht als Teil-Eigenschaft der Vernunft, sondern Vernunft als Gattung des Schlafes dargestellt wird. Es ist meiner Meinung ein Gen. definitivus.
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Re: Goyas Genitiv

Beitragvon Laptop » Do 6. Jan 2011, 03:00

brakbekl hat geschrieben:Das ist kein Gen. subjektivus … Weil hier der Schlaf nicht als Teil-Eigenschaft der Vernunft, sondern Vernunft als Gattung des Schlafes dargestellt wird.


Teil-Eigenschaft? Ist bspw. bei timor tyranni etwa timor eine „Teil-Eigenschaft“ von tyrannus? Die Vernunft, die schläft oder träumt, ist offenbar symbolisiert durch den schlafenden Herren auf dem Bild. Irgendwann wacht er wieder auf, d. h. mit Schlaf / Traum kann nur ein vorübergehender Zustand gemeint sein. D.h. die Vernunft ist das Handelnde Element. Daher genitivus subiectivus.

Man könnte es wohl auch deuten als genitivus obiectivus, „der Traum von der Vernunft“, dann hätte der Herr auf dem Bild allerdings seine Symbolhaftigkeit verloren. Daher halte ich diese Deutung für abwegiger.
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Re: Goyas Genitiv

Beitragvon Brakbekl » Do 6. Jan 2011, 12:13

Hallo Laptop :klatsch:
Laptop hat geschrieben:Teil-Eigenschaft? Ist bspw. bei timor tyranni etwa timor eine „Teil-Eigenschaft“ von tyrannus?

Eindeutig ja, denn sonst wäre er nicht Tyrann!
Laptop hat geschrieben:Die Vernunft, die schläft oder träumt, ist offenbar symbolisiert durch den schlafenden Herren auf dem Bild. Irgendwann wacht er wieder auf, d. h. mit Schlaf / Traum kann nur ein vorübergehender Zustand gemeint sein. D.h. die Vernunft ist das handelnde Element. Daher genitivus subiectivus.
klingt gut...
Laptop hat geschrieben:Man könnte es wohl auch deuten als genitivus obiectivus, „der Traum von der Vernunft“, dann hätte der Herr auf dem Bild allerdings seine Symbolhaftigkeit verloren. Daher halte ich diese Deutung für abwegiger.
Der Herr ist ja nicht die Vernunft, sondern der Mensch ...

Mich dünkt Goya meint auch nicht mit (razon) Vernunft (das Vernehmen der Stimme des Gottes, bzw. des Gewissens), sondern die autonome Vernunft der radikalen Aufklärer. Deshalb schlage ich als Übersetzung vor: - de la razon - der Traum (des Menschen) von der autonomen Vernunft. Es ist ja die Zeit, als die Vernunft in Verdacht geriet ....

Die Kernfrage ist wirklich: Symbolisiert die Figur die Vernunft oder den Menschen?
Wenn sie den Menschen symbolisiert, dann ist es ein Gen. objektivus, wenn sie die Vernunft symbolisiert, dann ist es ein Gen. subjektivus und zugleich ein Gen. definitivus denn diese beiden Kategorien schließen sich nicht aus, weil die eine eine rein grammatische (Gen. subj. + obj.) Bestimmung ist, die andere aber eine semantische.



Bei "timor tyranni" liegt der Fall einfach:

timor tyranni - die Furcht (der Leute) vor dem Tyrannen = Gen. obj. (der Gen. wird zum Objekt)
timor tyranni - die Furcht des Tyrannen vor den Leuten = Gen. subj. (der Gen. gehört zum Subjekt)

Kann man die Genitive auch verschränken etwa: "timor hominum tyranni"?
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Re: Goyas Genitiv

Beitragvon Laptop » Fr 7. Jan 2011, 05:08

Die Kernfrage ist wirklich: Symbolisiert die Figur die Vernunft oder den Menschen?

Sehe ich auch so.

dann ist es ein Gen. subjektivus und zugleich ein Gen. definitivus denn diese beiden Kategorien schließen sich nicht aus

Ich habe den genitiuus definitiuus als Apposition verstanden, um bei unserem Beispiel zu bleiben, daß die Vernunft zugleich ein Schlaf ist. Und zwar habituell. Wenn die Vernunft jedoch schläft (genitiuus subiectiuus) ist das ein temporärer Zustand der Vernunft, was nicht impliziert, daß die Vernunft prinzipiell ein Schlaf ist.

Anderes Beispiel …
… für den definitiuus: „Der Irrtum der Esoterik“ i. S. v die Esoterik irrt sich immer, sie ist ein einziger großer Irrtum.
… für den subiektiuus: „Der Irrtum der Esoterik“ i. S. v. die Esoterik irrt sich in diesem Fall oder in einem Punkt, aber nicht prinzipiell.
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Re: Goyas Genitiv

Beitragvon Brakbekl » Fr 7. Jan 2011, 08:30

Laptop hat geschrieben:Wenn die Vernunft jedoch schläft (genitiuus subiectiuus) ist das ein temporärer Zustand der Vernunft, was nicht impliziert, daß die Vernunft prinzipiell ein Schlaf ist.


Dann ist Schlaf die bessere Übersetzung gegenüber Traum. Denn der Schlaf ist eindeutig negativ belegt, im Gegensatz zum Traum, von dem es immer heißen könnte "der Traum von der Vernunft".

Es fragt sich nun bloß, ob Goya die Aufklärung mit dem Schlaf der Vernunft bezeichnet, oder den Zustand davor. Seine Lebensdaten sprechen für erstere Annahme.
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Re: Goyas Genitiv

Beitragvon Zythophilus » Fr 7. Jan 2011, 17:12

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Re: Goyas Genitiv

Beitragvon Brakbekl » Fr 7. Jan 2011, 17:38

Danke, Zytofreund, ich stell das mal hier als Zitat ein.

Goyas Traum der Vernunft
gebiert Ungeheuer

78. Sitzung der HUMBOLDT-GESELLSCHAFT BERLIN am 16.03.99 von Stefan Nehrkorn

Das Blatt 43 aus der Serie "Caprichos"
von Francisco de Goya (1746 - 1828)


"Die Phantasie, verlassen von der Vernunft, erzeugt unmögliche Ungeheuer; vereint mit ihr ist sie die Mutter der Künste und Ursprung der Wunder." (Goyas Kommentar zum Blatt 43)

"Caprichos" bedeutet soviel wie "Launen, Einfälle". In der Kunstliteratur ist es seit dem 16. Jahrhundert gebräuchlich. Man versteht darunter den geistreichen und originellen künstlerischen Einfall, das Phantasiestück, bei dem der Künstler seinem Erfindungsreichtum ohne thematische Zwänge oder formale Konventionen freien Lauf lassen kann.
Goya wurde am 30. März 1746 in Fuentetodos (Aragon) geboren. Nach der Thronbesteigung Karls IV. von Spanien stieg er zum Hofmaler auf und war damit der bevorzugte Porträtist seiner Zeit. Am 6. Februar 1799 veröffentlichte der Künstler seine später weltberühmten "Caprichos". 14 Tage später waren die "Caprichos" indiziert. In diesen Arbeiten bricht eine neuartige Figurensprache hervor, die ganz aus der Imagination schöpft und durchaus schon "romantische" Ansätze zeigt. Insgesamt schuf Goya 80 Tafeln in den Techniken der Radierung und Aquatinta. In diesem Zyklus setzte sich der Künstler kritisch mit den Ehesitten seiner Zeit, der Erziehung, der Prostitution und dem Aberglauben auseinander. Er griff aber auch gezielt die Kirche, die Inquisition, den Adel und die Regierung an. Die Bildsprache ist teils realistisch, teils traumhaft. Drastisch charakterisierte Figuren beleuchten oft schlaglichtartig die jeweilige Pointe. Die Hauptfiguren von Goyas "Caprichos" waren allesamt "Personen des öffentlichen Interesses", wie man es wohl heute nennen würde. Einige Gestalten werden karikaturhaft entstellt. Die Fratzen gehen teilweise auf die damals viel diskutierte Veröffentlichung von Johann Kaspar Lavater (1741-1801): "Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe" zurück. Sowohl das spanische Volk, als auch Adel und Hof konnten die zynisch-spitzen Aussagen der Bilder gegen Ende des 18. Jahrhunderts zweifelsfrei "lesen". Goya milderte seine beißende Kritik zunächst durch beigefügte Kommentare ab, übergab dann aber doch aus Angst vor der Inquisition 1803 dem König von Spanien die gesamten Druckplatten. Goya starb am 16. April 1828 in Bordeaux.

"Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer" ist die bekannteste Radierung Francisco de Goyas. Der Originaltitel des Frontblatts der Serie "Caprichos" lautet:

"El sueño de la razón produce monstruos". Das spanische Substantiv "sueño" kann mit "Schlaf" oder "Traum" übersetzt werden. Die Verben "soñar" (= träumen) und "dormir" (= schlafen) legen dem Interpreten jedoch das Wort "Traum" nahe. Der (im Rahmen des Vortrags) vorgestellte SWR2 RadioART Essay des Politologen Wilhelm Hennis kreist um diesen ideen- und zeitgeschichtlich äußerst spannenden Umstand.

Im vom Krieg mit dem napoleonischen Frankreich zerrütteten Spanien der vorletzten Jahrhundertwende war die Frage von Brisanz, ob die "Abwesenheit" der Vernunft oder der Traum vollkommener Vernunft mehr Unheil anrichtete.

Wilhelm Hennis nimmt zur Beantwortung dieser Frage Goyas Gesamtwerk zu Hilfe: Die ironischen Brechungen in andere Werken Goyas und die Auseinandersetzung zwischen Spanien und Frankreich drängen ihm die Deutung des Blattes 43 als "Traum der Vernunft" auf. So trägt eine Vorstudie zum Blatt 43 den Titel "Ydioma universal" ("Universalsprache"). Die Universalsprache war damals ein Projekt französischer Aufklärer -z.B. Condorcets-, das sich einer einzigen, eindeutigen und unmißverständlichen Sprache widmete. Dieses "Projekt" findet sich literarisch am treffendsten in Jonathan Swifts Satire "Gullivers Reisen" (1726) karikiert (Teil 3, Kap. 2). Goya kannte Swifts Buch: es inspirierte ihn zu seiner Zeichnung "Der gefesselte Riese".
Dies ist nur eine der Linien, die Wilhelm Hennis nachzeichnet. Am Ende der Spurensuche steht die Antwort, welchen Titel das Blatt Nr. 43 von Francisco de Goya trägt, fest. Die Vernunft, die sich etwas "ausdenkt", produziert Monster: "Der Traum einer universellen, projekteschmiedenden Vernunft gebiert Ungeheuer".
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