@ Prudentius: Zum besseren Verständnis des Textes habe ich für mich und alle anderen jungen Leute versucht, die einzelnen Kapitel mit (mehr oder weniger) eigenen Worten wiederzugeben. Du siehst, von wem der Text in Klammern stammt. Sollte etwas nicht klar genug dargestellt sein, nimm bitte gerne den Rotstift!
Zusammenfassung
Nach einem kurzem Bericht über das Expeditionskorps, das die Athener im Jahr 416 v. Chr. gegen die Insel gesandt hatten, beginnt die Auseinandersetzung zwischen den athenischen Gesandten und den Ratsherren von Melos. Die Melier erscheinen in der tragischen Situation des kleinen Neutralen, der seinen Frieden bewahren will. Sie stehen dem athenischen Imperialismus gegenüber, der eine solche Stellung in seinem Machtbereich nicht duldet.
(85) Die Melier haben die Versammlung ins Rathaus verlegt, was den Athenern nicht behagt. (Die Athener als Demokraten hätten lieber vor dem Demos geredet. Nun müssen sie sich an die „hier Sitzenden“ richten. Sie würden sich lieber an die in der Volksversammlung Stehenden richten.) Die Athener geben den Meliern zu verstehen, dass sie sehr genau wissen, weshalb die Versammlung nicht vor dem Demos stattfinden soll (Sie unterstellen den Meliern, dass sie (die M.) den Athenern eine Betrugsabsicht unterstellen (apatethosin), ganz schön vertrackter Gedanke!). Athener und Melier tragen jeweils ihre Vorstellungen von der Form der Verhandlung vor: Nach Auffassung der Melier sollte es jeder Partei möglich sein, eine lange Rede zu halten, die athenischen Gesandten ziehen es jedoch vor, dass die einzelnen Verhandlungspunkte der Reihe nach erörtert und entschieden werden. Die Melier könnten, so die Athener, dadurch an Sicherheit gewinnen. (Sie sollen "noch sicherer handeln": nämlich durch die Verlegung ins Rathaus sind sie schon einmal sicherer geworden, nämlich vor den Demagogen; jetzt sollen sie also "noch sicherer werden", nämlich durch die Wechselreden.)
(86) Die Melier erwidern, dass solche Wechselreden für sie akzeptabel seien, allerdings sei ihre Entscheidung nicht in Einklang zu bringen mit den bereits getroffenen kriegerischen Anstalten der Athener. Sie, die Melier, sähen nämlich, dass die Athener aufgrund der ungleichen Machtverhältnisse zugleich Antrag stellende Partei und Richter in eigener Sache seien. Daher könnten von ihnen vorgetragene Rechtsgründe in der Verhandlung zu keinem Erfolg führen. Das Ergebnis der Debatte könne nur Krieg oder Sklaverei für sie bedeuten.
(87, 88) Die Athener wollen rechtliche Argumente von vorn herein nicht gelten lassen und drohen – sollten sich die Melier darauf berufen - mit dem Abbruch der Verhandlungen. Schließlich akzeptieren die Melier die Forderung der Athener, sich in der Beratung an ihren noch verbliebenen Möglichkeiten, den "realen Gegebenheiten" zu orientieren und den Verhandlungsgegenstand auf „die Erhaltung der Stadt“ zu beschränken. (Man sieht, in welch ungünstiger Verhandlungsposition die Melier sich befinden.)
(89) Die Athener antworten, dass sie nicht mit schönen und langen Worten (Der Text ist hintergründig: wenn man liest: "Wir wollen keine langen Reden halten", da denkt man, er spricht über Sprache und Stil, also über Modalitäten der Verhandlungsführung; aber wenn man weiter liest, dann kommt es ganz anders: er will damit die Berufung auf rechtlich-moralische Argumente ausschließen.) die Legitimation ihrer Vorherrschaft aufgrund des Siegs über die Perser (Das ist eine Anspielung an die patriotische Geschichtsversion des perikleischen Athens, wie wir sie bei Herodot lesen können, er hat ja die Perserkriege dargestellt; der Vorgänger des Thukydides. Ü: "weil wir dem Meder eine vernichtende Niederlage zugefügt hätten".) darlegen oder auf erlittenes Unrecht (Anspielung an die aktuelle Kriegspropaganda) hinweisen wollen. Sie fordern die Melier auf, nicht zu versuchen, sie mit irgendwelchen Argumenten zu überreden. Es komme vielmehr darauf an, dass jede Partei das ins Auge fasse, was sich als erreichbar/ möglich erweist. (Das "Mögliche" billigt man dem Stärkeren zu; was klingt das harmlos! Aber wenn du den Abstraktbegriff ins Konkrete umsetzt, in die Kriegssituation, dann ist damit gemeint: Nötigung, Ausplünderung, Versklavung. Massaker, Kriegsverbrechen.) Sie fügen hinzu, dass nach (allgemein) menschlicher Überzeugung (betont die Verbindlichkeit des Machtprinzips; wieder ein Hinweis mit dem knöchernen Finger an die Melier.) Recht nur unter Gleichstarken Bedeutung habe. (Die A. wollen hier nicht die jeweils unterschiedlichen Rechtsauffassungen bezeichnen, sondern sie unterstellen eine gemeinsame Überzeugung, nämlich das Prinzip des Rechts des Stärkeren, ein dezenter Hinweis für die M., was hier von ihnen erwartet wird.) Bestehe jedoch ein Machtgefälle zwischen zwei Staaten, so setze sich der Stärkere durch und der Schwächere gebe nach. (In 89 ist schon die Kernaussage des ganzen enthalten, die Definition von Machtpolitik im Verhältnis zum Recht; am Ende: "Nach dem Recht geht es nur unter Gleichrangigen; ansonsten hat der Stärkere freie Hand".)
(90) Die Melier stellen den Rechtsvorstellungen der Athener (Recht des Stärkeren), eine andere, menschlichere Denkweise gegenüber: Wenn die Athener schon Rechtsgründe ausschließen wollen, so sollen sie doch wenigstens Billigkeitsgründe gelten lassen, so könne man, aus dem, was „innerhalb des strengen Rechts liege“, einen Nutzen ziehen. ("entos tu akribus", das akribes wird hier als Moralbegriff verwendet; das ist wieder eine solche Verkrümmung, zu der die M. gezwungen sind aufgrund der Auflage, die die A. ihnen gemacht haben.) Sie ermahnen die Athener, dass auch ihnen einmal eine nachsichtige Behandlung Nutzen bringen könne, sollten sie sich einmal in der Position des Schwächeren befinden. (Die Athener kommen mit der Forderung, die Melier sollten dem Seebund beitreten und ihrer Mutterstadt Sparta den Krieg erklären, sie tun aber vornehm und sagen es nicht; und die M. sind in der Zwangslage, dass ihr einziges Argument, der Appell an Recht und Moral, ihnen schon vorher aus der Hand genommen wurde: "Kein dummes Geschwätz!". Sie sind also zu einem geistigen Slalom gezwungen, sie müssen lauter Verkrümmungen machen, sind aber so geschickt, dass sie die Sache hinbekommen: das Thema Recht und Moral herzubringen, sie bedienen sich als Brücke des Begriffs des Nützlichen (chresimon, xympheron): der Begriff des Nutzens ist auch für den Mächtigen relevant.)
(91.1) Die Athener versichern, weder das Ende ihrer Herrschaft noch die Spartaner zu fürchten, deuten aber an, dass sie der Gedanke an einen Aufstand der Bundesgenossen bedrückt.
(91.2) Die Athener führen das Gespräch wieder auf den ihrer Meinung nach entscheidenden Punkt: An ihrem eigenen Nutzen bestehe kein Zweifel, könnten sie doch ihren Herrschaftsbereich mühelos vergrößern. Für die Melier, so die Athener, bestehe der Nutzen darin, dass sie durch eine freiwillige Unterwerfung ihr Leben retten könnten.
(92) Die Melier wenden ein, dass im Falle ihrer Unterwerfung der Nutzen für beide Parteien nicht gleich groß sein könne.
(93) Die Athener bieten den Meliern nun ein friedliche Besetzung der Insel an, ohne Schrecken des Krieges: Wenn sich die Melier freiwillig unterwerfen könnten anstatt umzukommen, sei das doch für sie von Nutzen. Sie, die Athener, hätten dann den Vorteil, die Melier nicht umbringen zu müssen.
(94) Das Angebot der Melier besteht in der bedingungslosen Neutralität für die kommende Zeit.
(95) Die Athener gehen darauf aber nicht ein mit der Feststellung, dass ihnen die Feindschaft der Melier nicht in dem Maß schade wie die Freundschaft als Zeichen der Schwäche gedeutet werde, während der Hass die athenische Macht unterstreiche. (Hier kommt die Unmenschlichkeit des reinen Machtkalküls langsam heraus: Freundschaft bedeutet Schaden, Hass Vorteil: die menschlichen Wertungen sind auf den Kopf gestellt.)
(96) Die Melier fragen, ob denn die Untertanen der Athener nicht auf das „Angemessene“ (hier wieder eine Umschreibung für einen Moral- oder Rechtsbegriff, den sie ja nicht gebrauchen durften; aber sie meinen: "Gerechtigkeit") achten, nämlich darauf, zwischen ihnen und den bereits Unterworfenen zu unterscheiden.
(97) Die Athener weisen dieses Argument zurück: Es gehe hier nicht um Rechtsgründe, sondern um eine Frage der Macht. (Thukydides will sagen, nicht dass beide ihre Gründe haben, sondern dass Auffassung gegen Auffassung steht, dass also ein Patt vorliegt, dass man also die ganzen Rechtsfragen vergessen kann.) Die Unterwerfung von Melos würde ihnen, den Athenern, durch die erneuerte Machterweiterung Sicherheit gewähren, besonders weil die Melier sich als unbedeutende Inselbewohner der athenischen Seeherrschaft beugten.
(98) Die Melier erinnern daran, dass die Athener sie „überzeugt“ (So wie ihr überzeugt habt, so müssen auch wir versuchen zu überzeugen..., mit dezentem Hinweis auf ihre Zwangslage: "ihr überzeugt", Indikativ, fast zynisch, die bewaffnete Truppe wirkt als Überzeugungshilfe; wir müssen erst versuchen...) hätten, Rechtsgründe auszuschließen und versuchen nun ihrerseits, die Athener zu überzeugen: Das, was in ihrem eigenen Interesse liege, sei auch für die Athener von Vorteil. (Die M. versuchen also hier, über den Begriff des chresimon die moralische Argumentation wieder hereinzubringen, die ihnen ja vorher die A. verboten hatten.) Sollten die Athener ihnen die Freiheit rauben, so müssten alle anderen noch neutralen Staaten fürchten, dass ihnen einst das Gleiche widerfahren werde So würden auch Staaten, die bisher noch nicht an Krieg gedacht hätten, den Athenern feindselig gegenüber stehen.
(99) Wiederum korrigieren die Athener die Melier: Sicherheitsbedenken bereiteten ihnen nicht die Bewohner des Festlands. Diese seien sich ihrer Freiheit bewusst und hätten keine Veranlassung, sich vor den Athenern zu schützen. Sorgen machen müssten sich die Athener vielmehr wegen der Inselbewohner, sowohl wegen der, die wie die Melier bisher keiner Herrschaft unterworfen waren als auch wegen der, die schon unter dem Zwang einer Herrschaft stehen. Denn diese könnten durch unvernünftige Handlungen sie, die Athener, und sich selbst ins Verderben stürzen.
(100) Die Melier erklären es für eine Ehrensache, den äußersten Kampf zu wagen, um einer
Unterwerfung zu entgehen (Die M. haben mit der Berufung auf "Feigheit und große Schlechtigkeit" gegen die Vorgaben des Dialograhmens verstoßen, wie er ihnen in 89 gegeben wurde.)
(101) Die Athener erinnern wieder daran, dass es nicht um Ehre gehe, sondern darum, dass sie, die Melier, ihre Existenz im Kampf gegen einen überlegenen Feind nicht aufs Spiel setzten. (Die A. pochen hier darauf, als die Mächtigeren können sie ja die Bedingungen diktieren: keine Moralappelle, die Mächtigen setzen das ihnen Mögliche durch und die Schwächeren fügen sich; die Moral zählt nur unter Gleichstarken.)
(102) Die Melier halten dagegen, dass das Kriegsglück unberechenbar sei und auch ein mächtiger Staat nicht darauf vertrauen könne, ihre einzige Hoffnung bestehe darin, sich den Athenern mit ganzer Kraft zu widersetzen.
(103.1) Die Athener geben zu bedenken, dass Hoffnung, die dazu neigt, alles zu riskieren, trügen könne und oftmals erst dann in ihrer Unzuverlässigkeit erkannt werde, wenn alles verloren sei.
(103.2) Die Athener ermahnen die Melier, es nicht den Unvernünftigen gleich zu tun, die sich auf „Weissagung, Göttersprüche und all dieses verlassen", vielmehr sollten sie sich, da doch ihr Schicksal auf Messers Schneide stehe, den Realitäten stellen.
(104) Die Melier meinen, auf göttliche Hilfe vertrauen zu können: Sie hätten ihre Pflichten gegenüber der Gottheit eingehalten, „sich als Reine gegen die Nichtgerechten gestellt“. (Eigenartig die Wendung "nicht Gerechte"; man kann sich fragen: warum sagt er nicht "Ungerechte"? Was ist der Unterschied? "Ungerechte" wäre beleidigend, das könnten die M. sich nicht erlauben gegenüber den A., die über ihr Schicksal entscheiden können; "Nicht Gerechte" können sie sich aber erlauben, denn die A. selbst haben ja in 89 erklärt, dass sie nicht beanspruchen, "gerecht" zu handeln; man sieht hier, wie die M. sich drehen und winden müssen, um ihre Sache vorzubringen, ohne einen Affront gegenüber den Herren der Situation zu riskieren, und damit einen Abbruch der Verhandlung und ihren Ruin; ὅσιοι, Heilige, Fromme, Gottgefällige; er meint aber in Wirklichkeit: Gerechte, darf es aber nicht sagen, weil er gegen die Richtlinie verstoßen würde (89); ebenso "nicht Gerechte"; gemein ist: Ungerechte.) Zudem könne ihre militärische Unterlegenheit durch die Unterstützung der Spartaner ausgeglichen werden. Diese könnten sie wegen der Verwandtschaft und aus Ehrgefühl gar nicht im Stich lassen. Ihre Zuversicht, so die Melier, sei also nicht ganz unbegründet.
(105.1) Auch die Athener sind sich des göttlichen Beistands sicher: Sie würden, so betonen sie, keine ungerechten Ansprüche erheben, weder was die Ausübung der Gebräuche betreffe noch die Gesinnung gegen andere.
(105.2) Machtpolitisches Vorgehen entspreche der Natur: „Das Menschliche herrsche, wo es die macht dazu habe, nach dem Zwang der Natur.“ Dieses Gesetz sei nicht von Athen gemacht worden, es habe ewige Geltung und jeder andere mächtige Staat werde ebenso handeln wie sie. (Eine Reihe von wissenschaftlichen Fundamentalbegriffen taucht hier auf, vllt. überhaupt erstmals: - ὑπὸ φύσεως ἀναγκαίας die Naturnotwendigkeit; der Naturbegriff, als oberste Instanz; ein geistiger Regime-Wechsel: nicht mehr die Götter bestimmen alles, sondern sie zusammen mit den Menschen stehen unter dem Naturgesetz: "τό τε θεῖον ... τὸ ἀνθρώπειόν τε..."; die "Aufklärung" meldet sich zu Wort; - τὸν νόμον das Gesetz - θέντες τὸν νόμον: es gibt zwei Arten von Gesetzen: die ewigen und die von Menschen geschaffenen. - διὰ παντὸς die Allgemeingültigkeit des Gesetzes: sie erst macht Wissenschaft möglich. - εἰδότες Wissen heißt, das Gesetz zu kennen; - δόχηι: doxa ist der Gegenbegriff: man meint etwas zu wissen, kann es aber nicht erklären.)
(105.3) Angst, „benachteiligt“ zu werden, haben die Athener nicht. ("benachteiligt": das ist diplomatisch ausgedrückt, oder Euphemismus, oder understatement; was er unverblümt meint: dass es uns dreckig ergehen wird.) Die Hoffnung der Melier, Sparta werde sie aus Edelmut unterstützen, bezeichnen die Athener als naiv und unvernünftig.
(105.4) „Höchster Edelmut“ gelte bei den Spartanern nur im eigenen Land, außenpolitisch heiße Spartas Maxime: Gerecht ist, was nützt. (Der Athener geht hier auf Moralbegriffe ein, was er vorher den M. verboten hatte; das darf sich der, der die Oberhand hat, erlauben.)
(106) Die Melier argumentieren, dass die Spartaner doch einen eigenen Vorteil davon hätten, wenn sie ihre Brüder nicht fallen ließen: Würden sie doch sonst bei ihren Freunden und Feinden an Ansehen verlieren.
(107) Die Athener meinen, dass die Spartaner sich in diesem Fall in Gefahr bringen würden, wenn sie aus Edelmut handelten. Normalerweise würden sie sich, wenn es irgend möglich sei, nicht aus Edelmut in Gefahr begeben. (Hier kommt der Athener in ziemliche Verlegenheit, denn die Spartaner haben ja in den Perserkriegen eine glanzvolle Rolle gespielt: Leonidas in der Thermopylenschlacht.)
(108) Die Melier glauben dennoch an die Möglichkeit der spartanischen Hilfeleistung und begründen dies mit ihrer geographischen Lage und der Tatsache, dass sie aufgrund ihrer Stammesverwandtschaft den Spartanern ein treuer Bündnispartner sein würden.
(109) Im Ernstfall, so die Athener, sei es nicht der gute Wille eines Bündnispartners, der einem Staat Sicherheit gewähre, sondern die militärische Stärke. Das müsse auch die Überzeugung Spartas sein, da es wohl kaum mit der Seemacht Athen in Konfrontation geraten möchte, um eine Insel zu verteidigen.
(110.1) Die Spartaner hätten durchaus die Möglichkeit, so die Melier, jemand anderes zu schicken. Im Übrigen könnten diejenigen, die die Seeherrschaft inne hätten, in der Weite des Kretischen Meeres feindliche Schiffe nur schwer ergreifen. Wahrscheinlicher sei es, dass denjenigen, die entkommen wollten, die Flucht gelänge.
(110.2) Athen sei auf jeden Fall verwundbar, denn die Spartaner könnten die Athener in ihrem eigenen Land angreifen und in den Ländern der Verbündeten, in die Brasidas noch nicht gelangt sei.(Br. hat als spartanischer Feldherr einen erfolgreichen Feldzug gegen die Athener und ihre Verbündeten geführt, bis er fiel. (Thukydides erwähnt nicht, dass er selber als athenischer Kommandeur ihm gegenüber den kürzeren gezogen hatte und daher verbannt wurde). Die Athener hätten also nicht so sehr wegen eines Landes, das nicht ihrem Bündnis angehöre, eine Konfrontation zu befürchten als wegen eines ihnen verbündeten Landes.
(111.1) Wenn es um die Belagerung einer Stadt gegangen sei, so die Athener, hätten sie andere nie gefürchtet. Das müsse auch längst zu ihnen, den Meliern, vorgedrungen sein. (Es ist in gereiztem Ton gesagt, mit dem knöchernen Finger drohend; ungefähr: "es dürfte euch wohl nicht verborgen geblieben sein...".)
(111.2) Die Athener bedauern, dass die Melier zwar zugestimmt hätten, über den eigentlichen Verhandlungspunkt, das Wohl von Melos, beraten zu wollen, aber noch nichts vorgebracht hätten, womit sie ihre Rettung rechtfertigen könnten. Sie sollten, so mahnen die Athener, sich doch nicht auf die Hoffnung verlassen, die in den Sternen geschrieben stehe, sondern die wahre Sachlage, nämlich ihre unzureichende Macht, zur Kenntnis nehmen. Diese reiche nicht aus, um die bereits gegenübergestellte Macht zu bezwingen. Sollten die Melier sich nicht freiwillig unterwerfen, so widerspräche das allen Regeln der Vernunft.
(111.3) Die Athener ermahnen die Melier, keinen Weg einzuschlagen, der sie in Schande und Verderben führt: Das „irre leitende“ Wort (Ehre) überwältige viele, stürze sie aber in Wahrheit ins Unglück. Durch ihren Unverstand erlitten sie eine noch größere Schande als durch einen Schicksalsschlag.
(111.4) Es sei keine Schande, sich der athenischen Übermacht zu fügen, zumal diese Forderungen stelle, die maßvoll seien: Bundesgenossen zu werden und eine Steuer zu entrichten. Ihren Besitz könnten die Melier behalten. Sie hätten die Wahl zwischen Krieg und Sicherheit und sollten doch nun keine Fehlentscheidung treffen. Die Athener schließen mit der Grundsatzerklärung, man solle den Gleichstarken nicht weichen, den Stärkeren respektvoll begegnen und sich den Schwächeren gegenüber maßvoll verhalten. (Hier bringen die A. ihre Haltung auf eine Kurzform, es ist eine Grundsatzerklärung ihrer Auffassung von Machtpolitik; es ist bemerkenswert, was nicht genannt wird: Recht und Moral kommen nicht vor, auch die Götter spielen keine Rolle.)
(111.5) Die Athener ermahnen die Melier eindringlich, sich bei ihrer Beratung immer wieder vor Augen zu führen, dass sie nun einen unwiderruflichen Beschluss über das Wohl und Wehe ihres Vaterlandes fassen müssten.
(112.1) Nach einer Unterbrechung der Verhandlung und erneuter Beratung geben die Melier ihre endgültige Antwort: Sie seien nach wie vor entschlossen, nicht auf ihre Freiheit zu verzichten, nachdem ihre Stadt nun schon 700 Jahre unabhängig sei.
(112.2) Sie könnten auch weiterhin den Göttern vertrauen und auf die Hilfe der Menschen, nämlich der Spartaner, zählen.
(112.3) Daraufhin bieten die Melier den Athenern ein freundschaftliches Verhältnis an, bestehen aber auf ihrer Neutralität im Kriegsfall. Nach Abschluss eines für beide Seiten dienlichen Vertrages müssten sich die Athener, so die Forderung der Melier, aus ihrem Land zurückziehen.
(113) Bevor die Athener die Verhandlungsrunde verlassen, erwidern sie noch: Es sei ihr Eindruck, allein die Melier verließen sich mehr auf das, was sie nach den Bestimmungen des Schicksals erwarteten als auf ihre wirkliche Lage, die ihnen vor Augen gestellt sei. Das im Dunkel Liegende - nämlich den Beistand der Spartaner, der keineswegs gewiss sei, auf den sie aber blind vertrauten sowie die unsicheren Hoffnungen, auf die sie setzten - sähen sie, weil es ihr Wunsch sei, als schon geschehen an. Durch ihr Vertrauen auf die Spartaner, das Glück und die Hoffnungen würden sie sich ins Verderben stürzen.(Der Text entstand in der Zeit der attischen Tragödie; man erkennt hier die Verblendung, Blindheit der Akteure, ate genannt, seit Homer; den Meliern hilft es nicht, dass ihnen ihre wirkliche Lage vor Augen gestellt wird, sie erkennen sie nicht; und die klarsichtigen A. sind ihrerseits blind für das Verhängnis, das bald über sie kommen wird.)
Damit endet der Dialog. Es folgt ein nüchterner Bericht über die grauenhaften Strafmaßnahmen der Athener gegen die Insel nach ihrem Fall: Die Männer werden getötet, soweit man sie ergriff, Frauen und Kinder zu Sklaven gemacht.
@Prudentius: Ist ja ganz schön viel geworden. Dabei wollte ich dir keineswegs eine mehrere Abende/Tage füllende Beschäftigung mit der Durchsicht dieser Zusammenfassung verschaffen. Sollte dich die Länge des Textes nicht abschrecken und dir beim Durchlesen noch etwas Interessantes einfallen, würde ich es gerne noch ergänzen, ansonsten landet der Text so auf meinem e-book.
Beste Grüße an alle Leser!
Roxane