Thuk. 5.105.1

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Thuk. 5.105.1

Beitragvon Roxane » Di 17. Jun 2014, 09:37

Danke erst einmal für deine letzten Erläuterungen zu Kap. 104, Prudentius. Nun kommt der vertrackte nächste Abschnitt, zu dem ich mir zuerst den ein oder anderen Kommentar angesehen habe (Classen, Gottwein).

[5.105.1] {ΑΘ.} Τῆς μὲν τοίνυν πρὸς τὸ θεῖον εὐμενείας οὐδ' ἡμεῖς οἰόμεθα λελείψεσθαι· οὐδὲν γὰρ ἔξω τῆς ἀνθρωπείας τῶν μὲν ἐς τὸ θεῖον νομίσεως, τῶν δ' ἐς σφᾶς αὐτοὺς βουλήσεως δικαιοῦμεν ἢ πράσσομεν.

Kühner: „Wie das Perfekt, so wird auch das Fut. ex. mit Nachdruck statt des einfachen Futurs gebraucht. Der Erfolg der zukünftigen Handlung wird als gewiss eintretend bezeichnet.“

Pape: „νόμισις, ἡ, das herkömmliche Meinen, die herkömmliche Ansicht, der Brauch, (ἔξω τῆς εἰς τὸ θεῖον νομίσεως, Thuc. 5, 105)

τὰ ἀνθρώπεια, Soph. Ai. 132 Thuc. 7, 77, Menschliches, der Natur des Menschen Angemessenes, was dem Menschen zu widerfahren pflegt;"

Gen. obi.: ἔξω τῆς ἀνθρωπείας τῶν... νομίσεως, τῶν ...βουλήσεως; wörtl.: „außerhalb des Menschlichen (= der Natur des dem Menschen Angemessenen) in den Ansichten..., in den Absichten...“ (vgl. consensio omnium rerum: Übereinstimmung in allen Dingen)

ATH.: „Nun, an der Gunst der Gottheit, so meinen wir, wird es auch uns nicht fehlen (griech. Fut. II): Denn nichts, (was) wir verlangen oder betreiben, ist außerhalb dessen, was der Natur des Menschen angemessen ist, weder unsere herkömmlichen Ansichten hinsichtlich des Göttlichen (= hinsichtlich des guten Einvernehmens mit den Göttern) noch unsere Absichten hinsichtlich der eigenen (Interessen)."

Die Athener meinen, sie selbst können sich ebenso gut auf die Götter verlassen, denn sie handeln nach deren Gesetz, welches auch besagt, dass es des Menschen Natur ist zu herrschen.
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Re: Thuk. 5.105.1

Beitragvon Prudentius » Mi 18. Jun 2014, 17:18

Hallo Roxane,

wieder mal reichlich schwierig, mir hat das Stück τῶν δ' ἐς σφᾶς αὐτοὺς βουλήσεως ziemliches Kopfzerbrechen bereitet: wessen Wille? und worauf bezieht sich das Pronomen? Aber ich denke, so kommt es hin.

οὐδὲν γὰρ ἔξω τῆς ἀνθρωπείας τῶν μὲν ἐς τὸ θεῖον νομίσεως, τῶν δ' ἐς σφᾶς αὐτοὺς βουλήσεως δικαιοῦμεν ἢ πράσσομεν.


Ich nehme mal den Satz auseinander:

"οὐδὲν γὰρ ... δικαιοῦμεν ἢ πράσσομεν", das Gerüst oder Skelett: "Wir beanspruchen oder tun nichts";
an dem ἔξω hängt ein zweigliedriger Gen. mit einem gemeinsamen Adjektiv ἀνθρωπείας: "τῆς ἀνθρωπείας νομίσεως,... βουλήσεως", außerhalb des menschlichen Meinens und Strebens. Zu den beiden Gliedern ist noch jeweils eine Richtungsangabe gesetzt: τῶν μὲν ἐς ... τῶν δ' ἐς; gegliedert mit den beiden Artikelformen im Gen. Plur.

"Denn wir beanspruchen oder tun nichts außerhalb des menschlichen Glaubens an das Göttliche, und nichts außerhalb der menschlichen Bestrebungen ihnen selbst (den Menschen) gegenüber", so ungefähr;

"τὰ ἀνθρώπεια": nicht Neutrum pl., sondern fem. sing, auf beides bezogen: νομίσεως..., βουλήσεως .

"Gen. obi.", nicht obi., sondern von der Präp. regiert; der Gen. obi. nur bei Verbalsubstantiven, "amor patris".

lgr. P. :)
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Re: Thuk. 5.105.1

Beitragvon Roxane » Do 19. Jun 2014, 11:12

Jetzt ist alles klar, Prudentius. Das ἀνθρωπείας hätte ich ohne deinen rettenden Hinweis bis heute für ein Substantiv (Fem.) gehalten .
Was den (hier nicht vorhandenen) gen. obi. betrifft, so habe ich noch einmal bei Kühner nachgelesen, die Hellasgr. erwähnt ihn nur mit einem einzigen Beispiel. Jetzt weiß ich Bescheid.

Gut gefällt mir übrigens auch der Vorschlag von Classen, das νομίσεως mit "Gebräuche" wiederzugeben und das βουλήσεως entsprechend des lat. voluntas mit "Gesinnung" oder "Aufrichtigkeit". In Anlehnung an deine Übersetzung sähe das dann so aus:

"Denn wir beanspruchen oder tun nichts, was mit den menschlichen Gebräuchen (und Ordnungen) hinsichtlich des Göttlichen oder mit den Gesinnungen der Menschen (/ der menschlichen Aufrichtigkeit) sich selbst gegenüber nicht vereinbar wäre".

In der Hoffnung, dieses Kapitel (wie auch Kap. 104) nun abschließen (?) zu können dankt dir
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Re: Thuk. 5.105.1

Beitragvon Prudentius » Fr 20. Jun 2014, 16:18

Gut gefällt mir übrigens auch der Vorschlag von Classen, das νομίσεως mit "Gebräuche" wiederzugeben und das βουλήσεως entsprechend des lat. voluntas mit "Gesinnung" oder "Aufrichtigkeit".


Ich bin nicht so richtig überzeugt, ich würde gern diese zwei Begriffspaare parallel setzen:
νομίσεως ~ δικαιοῦμεν, βουλήσεως ~ πράσσομεν;
auf der einen Seite: unsere Meinungen von den Göttern, unsere Auffassungen, was gerecht ist im Sinne der Götter; also die begriffliche Seite der Sache;
auf der anderen Seite: unser Denken in Bezug auf das Handeln, unsere Absichten, die Umsetzung der Gedanken; also die praktische Seite; vllt. ist es so befriedigender.

Nochmal zu dem Gen. obi.: diese Benennungen der Genitive dienen nur dazu, um beim Übersetzen behilflich zu sein; aber bei Präpositionen braucht man das nicht, es heißt nur: "ἔξω mit Gen.".

Der Classen ist ein richtiger Klassiker, uralt, aus dem 19. Jh., von einem Schulmann für die Schüler geschrieben, man glaubt es kaum!


lgr. P. :)
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Re: Thuk. 5.105.1

Beitragvon Roxane » Mo 23. Jun 2014, 09:59

Guten Morgen, Prudentius!

Ja, der Classen, das war mal ein Pädagoge, der alles daran gesetzt hat, damit seine Schüler die Materie verstehen. Wirklich schier unglaublich!

Nun zu deinen (ebenfalls wertvollen) Erläuterungen zu dem letzten Satz: Ich notiere einfach mal zum besseren Verständnis das Gerechte, um das es - wie du zurecht anmerkst - geht, in Klammern:

"Denn wir beanspruchen oder tun nichts außerhalb der menschlichen Auffassungen (von dem, was) gegenüber dem Göttlichen (gerecht ist), und nichts außerhalb der menschlichen Bestrebungen sich selbst (den Menschen) gegenüber."
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